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Corona-Notbremse: Gesetz passiert Bundesrat, Klagen in Karlsruhe

«Verfassungsrechtlich problematisch»: Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier spricht im Bundesrat. Foto: Wolfgang Kumm/dpa
«Verfassungsrechtlich problematisch»: Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier spricht im Bundesrat. Foto: Wolfgang Kumm/dpa

Die Länder schießen massiv gegen das neue Infektionsschutzgesetz und die bundeseinheitliche Notbremse. Trotzdem halten sie es im Bundesrat nicht auf. Der erste Antrag liegt allerdings schon beim Verfassungsgericht.

Der Bundesrat hat das geänderte Infektionsschutzgesetz mit der Corona-Notbremse trotz massiver Kritik passieren lassen.

In einer Sondersitzung verzichtete die Länderkammer am Donnerstag darauf, den Vermittlungsausschuss zu dem Gesetz anzurufen, das der Bundestag am Vortag verabschiedet hatte. Es gab keine förmliche Abstimmung.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier unterzeichnete das Gesetz anschließend, das jetzt nur noch im Bundesgesetzblatt veröffentlicht werden muss.

Allerdings liegt bereits der erste Eilantrag dagegen im Postfach des Bundesverfassungsgerichts. Weitere Beschwerden in Karlsruhe dürften folgen.

Bundesrat: Unmut aber kein Veto

Im Bundesrat äußerten alle sechs Ministerpräsidenten, die sich in der Aussprache zu Wort meldeten, erheblichen Unmut.

Sie sahen durch die Bank verfassungsrechtliche Bedenken – insbesondere wegen der starren Notbremse – und Probleme bei der praktischen Umsetzung. Dem Bund warfen sie zudem vor, nicht die Erfahrungen der Länder in der Pandemiebekämpfung berücksichtigt zu haben. Die Länderchefs erkannten aber wegen der anhaltenden Corona-Pandemie den Handlungsbedarf an und wollten das Gesetz daher nicht aufhalten.

Bundesratspräsident Reiner Haseloff (CDU) kritisierte in scharfer Form die Kompetenzverlagerung auf den Bund. „Der heutige Tag ist für mich ein Tiefpunkt in der föderalen Kultur der Bundesrepublik Deutschland“, sagte der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt. Die Länderkammer berate über ein Gesetz, „dessen Entstehung, Ausgestaltung und Ergebnis unbefriedigend sind“.

Der saarländische Regierungschef Tobias Hans (CDU) betonte: „Ob diese Kompetenzverlagerung auf die Bundesebene eine wirkungsvollere Art der Pandemiebekämpfung darstellt, dieser Beweis, der ist noch nicht erbracht. Und der muss erbracht werden.“

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) warb in der Sitzung nochmals für das Gesetz und spielte schon den Ball ins Feld der Länder zurück. „Seit Anfang März sind die Instrumente ja alle benannt, aufgeschrieben, eigentlich vereinbart und geeint, inklusive der Ausgangsbeschränkungen“, sagte er. „Und da müssen wir uns ehrlich machen: Obwohl Bund und Länder dasselbe wollen, ist bei vielen der Eindruck entstanden, wir würden nicht am selben Strang ziehen in den letzten Wochen.“ Das einheitliche Handeln, so der Eindruck, sei verloren gegangen. Das Gesetz sei „das Ergebnis all dieser Entwicklungen“.

Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier bezeichnete die starren Ausgangsbeschränkungen als „verfassungsrechtlich problematisch“. Es stelle sich auch die Frage, wie zum Beispiel die vorgesehenen Schulschließungen umgesetzt werden sollten. Bouffier bedauerte es, „dass der Bundestag die Chance hat verstreichen lassen, viele Erfahrungen der Länder, die wir aus einem Jahr praktischem Krisenmanagement gesammelt haben, mehr und intensiver aufzunehmen“. Das hätte die Akzeptanz in der Bevölkerung deutlich erhöhen können.

Der niedersächsische Regierungschef Stephan Weil (SPD) sagte, die Neuregelungen seien für den Infektionsschutz „kein großer Wurf“. Bei Ausgangsbeschränkungen sei die verfassungsrechtliche Zulässigkeit fraglich, er sei „sehr gespannt“ auf die Rechtsprechung. Für sein Land bedeute das Gesetz sogar erhebliche Lockerungsmöglichkeiten. Weil fasste seine Bewertung so zusammen: „Für mein Land unnötig, aber ich füge hinzu: auch unschädlich.“

Gezogen werden soll die Notbremse, wenn in einem Landkreis oder einer Stadt die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen an drei Tagen hintereinander über 100 liegt. Dann dürfen Menschen ab 22.00 Uhr die eigene Wohnung in der Regel nicht mehr verlassen. Alleine Spazierengehen und joggen ist bis Mitternacht erlaubt.

Es darf sich höchstens noch ein Haushalt mit einer weiteren Person treffen, wobei Kinder bis 14 Jahre ausgenommen sind. Läden dürfen nur noch für Kunden öffnen, die einen negativen Corona-Test vorlegen und einen Termin gebucht haben. Präsenzunterricht an Schulen soll ab einer Inzidenz von 165 meist gestoppt werden.

Das vom Bundestag am Mittwoch beschlossene Gesetz ist ein Einspruchsgesetz. Das heißt, eine Zustimmung des Bundesrates war nicht nötig. Die Länderkammer hätte aber den Vermittlungsausschuss von Bundesrat und Bundestag anrufen und das Gesetz damit zeitlich aufhalten können.

Erste Klagen in Karlsruhe

Schon vor der Bundesratsentscheidung ging beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe der erste Eilantrag gegen das Gesetz ein.

Rechtsanwalt Claus Pinkerneil mit Kanzleien in Berlin und München teilte mit, Verfassungsbeschwerde eingelegt zu haben. Auch die Freien Wähler kündigten Verfassungsbeschwerde an. Die FDP hat ebenfalls einen solchen Schritt angekündigt, genauso wie der SPD-Bundestagsabgeordnete Florian Post.

Ihm gehe es vor allem darum, dass das Gesetz die Maßnahmen weitestgehend (verwaltungs)gerichtlicher Kontrolle entziehe, dass der Inzidenzwert als alleiniger Maßstab ungeeignet sei und dass insbesondere Ausgangsbeschränkungen unverhältnismäßig seien, sagte Pinkerneil der Deutschen Presse-Agentur. Er bereite weitere Verfassungsbeschwerden unter anderem für Gastronomen vor für den Fall, dass das Gesetz in Kraft trete, so Pinkerneil.

Die Freien Wähler wollen gleich mit einer doppelten Verfassungsbeschwerde gegen die Bundes-Notbremse vorgehen. Man wolle damit die „Freiheitsrechte“ der Bürger verteidigen, sagte der Bundesvorsitzende Hubert Aiwanger am Donnerstag bei der Vorstellung der ersten Klageschrift in Berlin.

Damit wenden sich die Freien Wähler zunächst gegen die bundeseinheitliche nächtliche Ausgangssperre in Regionen mit einer Sieben-Tage-Inzidenz über 100. Mit einer zweiten Verfassungsbeschwerde wollen sie dann die geplante Notbremsen-Regel für den Handel zu Fall bringen. Die Freien Wähler sitzen in Bayern zusammen mit der CSU in der Regierung.

Der Bundestagsabgeordnete Post hat ebenfalls angekündigt vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen. Er habe gegen das Infektionsschutzgesetz gestimmt, twitterte er bereits am Mittwoch nach dem Bundestagsbeschluss. „Zudem werde ich am Freitag BVerfG-Klage einreichen. Es gibt Möglichkeiten, jenseits von Ausgangssperren“, schrieb er weiter.

FDP-Chef Christian Lindner hatte schon in der vergangenen Woche mit einer Klage gedroht. Am Donnerstag schrieb der FDP-Abgeordnete Gerald Ullrich nun bei Twitter: „Dann eben auf nach Karlsruhe!“ Er werde mit den Kollegen der FDP-Fraktion vor dem Bundesverfassungsgericht klagen.

© dpa-infocom, dpa:210422-99-302564/10

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