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Radsport bangt nach Sturz bei Polen-Rundfahrt um Fabio Jakobsen

Bei der Polen-Rundfahrt kam es zu einem schweren Sturz. Foto: Andrzej Grygiel/PAP/dpa
Bei der Polen-Rundfahrt kam es zu einem schweren Sturz. Foto: Andrzej Grygiel/PAP/dpa

Exakt ein Jahr nach dem Tod des Belgiers Lambrecht ist es bei der Polen-Rundfahrt wieder zu einem schlimmen Sturz gekommen: Der Niederländer Fabio Jakobsen liegt im künstlichen Koma, nachdem er bei hoher Geschwindigkeit in ein Absperrgitter gedrängt worden war. Auch deutsche Radsportler kritisieren dabei auch den Veranstalter.

Beim schweren Sturz bei der Polen-Rundfahrt erlitt Radprofi Fabio Jakobsen nach Angaben seines Teamchefs schwere Verletzungen im Gesicht. „Alle Knochen in seinem Gesicht sind gebrochen“, sagte Patrick Lefevere, der Manager des Rennstalls Deceuninck-Quick Step, im belgischen Radio. Der Zustand sei „sehr schlimm. Wir beten weiter, dass er überlebt.“

Dylan Groenewegen hatteam Tag zuvor auf der ersten Etappe der Polen-Rundfahrt Quick-Step-Profi und Landsmann Fabio Jakobsen beim Zielsprint in Kattowitz abgedrängt und durch seine Aktion einen folgenschweren Crash ausgelöst.

„Ich finde es schrecklich, was gestern passiert ist. Ich kann nicht beschreiben, wie schlimm ich es finde für Fabio und die anderen, die gestürzt oder betroffen sind. Im Moment ist die Gesundheit von Fabio das Wichtigste. Ich denke ständig an ihn“, twitterte Groenewegen am Donnerstag. Auch der Sturzverursacher kam nicht unbeschadet davon, er wurde in Opole am Schlüsselbein operiert.

Jakobsen im künstlichen Koma

Jakobsen wurde fünf Stunden operiert. Der 23 Jahre niederländische Straßenmeister, der in ein künstliches Koma versetzt wurde, war nach dem Fahrmanöver Groenewegens bei sehr hoher Geschwindigkeit direkt in die Absperrgitter gekracht und reglos liegengeblieben.

„Nachdem wir den Sturz gesehen haben, haben wir das Schlimmste befürchtet, aber jetzt wissen wir, dass die Situation ernst, aber stabil ist“, wurde Renndirektor Czeslaw Lang zuvor nach einem Besuch im Krankenhaus in einer Mitteilung der Organisatoren zitiert. „Nachdem ich mit dem Krankenhausdirektor gesprochen habe, bin ich etwas erleichtert.“

Nach Angaben von Jakobsens Team Deceuninck-Quick Step seien bei ersten Untersuchungen keine Verletzungen im Gehirn oder an der Wirbelsäule festgestellt worden. Aufgrund der Schwere seiner zahlreichen Verletzungen befinde sich der 23-Jährige jedoch im künstlichen Koma und müsse in den kommenden Tagen intensiv beobachtet werden, hieß es in einer Mitteilung des Rennstalls.

Rennärztin Barbara Jerschena gab nach der OP ebenfalls erste Entwarnung und sagte der Nachrichtenagentur PAP, Jacobsen habe die Operation gut überstanden und sei nicht mehr in Lebensgefahr. Bis Freitagmorgen soll Jakobsen schrittweise aus dem künstlichen Koma geholt werden.

„Die Versuche, den Patienten auf dem künstlichen Koma zu holen, wird schrittweise erfolgen, daher wird dies vermutlich erst morgen in den frühen Morgenstunden der Fall sein, und erst dann können wir neue Informationen über seinen Gesundheitszustand geben“, sagte ein Sprecher des Krankenhauses in Sosnowiec.

Update vom 20. August 2020:
Gute Nachrichten von Fabio Jakobsen: Der niederländische Radprofi ist nach seinem Sturz bei der Polen-Rundfahrt wieder aus dem künstlichen Koma erwacht.
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Schwerer Sturz bei Bergab-Sprint

Schon die Bilder vom Sturz ließen Schlimmstes befürchten. Der niederländische Radprofi Fabio Jakobsen krachte bei der Polen-Rundfahrt im Zielsprint bei hoher Geschwindigkeit direkt in die Absperrgitter und blieb reglos liegen.

Bei dem Bergab-Sprint um den Sieg war Jakobsen nach dem Duell mit Groenewegen in die Gitter gedrängt worden. In der Folge kamen weitere Fahrer zu Fall, auch der zunächst erstplatzierte Groenewegen.

„Der Zustand ist sehr ernst. Er ist in Lebensgefahr. Er hat viel Blut verloren, aber er wurde erfolgreich intubiert, seine Atemwege waren frei. Wir gaben ihm Sauerstoff. Das Herz funktionierte gut“, hatte Rennärztin Barbara Jerschina am Vor-Abend nach dem Sturz bei der Polen-Rundfahrt zum Zustand von Fabio Jakobsen im polnischen Fernsehsender Polsat erklärt.

Ein bei dem Unfall ebenfalls schwer am Kopf verletzte Mitarbeiter sei wieder bei Bewusstsein und ebenfalls in einem „stabilen Zustand“, wie die Renn-Organisatoren mitteilten. Zudem würden noch drei weitere Radprofis in Krankenhäusern behandelt.

Fabio Jakobsen zum Sieger erklärt

Stürzte bei der Polen-Rundfahrt schwer: Fabio Jakobsen (l). Foto: Tomasz Markowski/AP/dpa
Stürzte bei der Polen-Rundfahrt schwer: Fabio Jakobsen (l). Foto: Tomasz Markowski/AP/dpa

Patrick Lefevere nannte das Verhalten Groenewegens „kriminell“. Der Chef von Jakobsens Team Deceuninck-Quick Step betonte in einem Interview mit dem belgischen Radio: „Ich werfe ihm einen Mordanschlag vor, nichts mehr und nichts weniger.“

Lefevere hatte am Abend zuvor gesagt, dass Dylan Groenewegen, der seinen Landsmann im Zielsprint bei hoher Geschwindigkeit abgedrängt hatte, eine Gefängnisstrafe verdiene. Diese Worte bedauere er nicht, sagte Lefevere dem belgischen Sender. „Wir werden Schritte unternehmen, um bei der UCI und der Polizei Anzeige zu erstatten.“

Groenewegen wurde nachträglich disqualifiziert und von der Jury aus dem Rennen genommen. Sein Team Jumbo-Visma, die Mannschaft des viermaligen Zeitfahr-Weltmeisters Tony Martin, entschuldigte sich für den Vorfall. „Solche Unfälle sollten nicht passieren. Wir entschuldigen uns aufrichtig. Wir werden den Vorfall intern besprechen, bevor wir weitere Aussagen tätigen“, teilte das Team mit.

Fabio Jakobsen wurde nach dem Sturz von der Jury nachträglich zum Sieger der Auftaktetappe der Polen-Rundfahrt über 196 Kilometer von Chorzow nach Kattowitz vor dem ebenfalls gestürzten Franzosen Marc Sarreau und dem Slowenen Luka Mezgec erklärt. Auch für Sarreau ist die Rundfahrt beendet. Er erlitt eine schwere Schulterverletzung mit mehreren Bänderrissen.

Kritik an Veranstalter

Der Radsportweltverband UCI erklärte in einer Mitteilung, dass man den Fall an die Disziplinarkommission weitergeleitet habe, um Sanktionen gegen Groenewegen zu beantragen. „Die UCI verurteilt das gefährliche Verhalten auf das Schärfste“, hieß es in dem Statement.

Heftige Kritik an den Veranstaltern der fünftägigen WorldTour-Rundfahrt übten CCC-Profi Simon Geschke und weitere Radprofis. „Jedes Jahr derselbe dumme Bergab-Sprint bei der Polen-Rundfahrt. Jedes Jahr frage ich mich, warum die Organisatoren denken, das sei eine gute Idee“, schrieb der 34 Jahre alte gebürtige Berliner auf Twitter. „Massensprints sind gefährlich genug, man braucht kein Bergab-Finale mit 80 km/h“, ergänzte der Tour-de-France-Etappensieger von 2015.

„Ich habe mir das Finale und den Crash bestimmt 30 Mal angeguckt und die Brutalität des Crash schockiert mich noch immer“, twitterte Ex-Weltklassesprinter Marcel Kittel.

„Ich will da jetzt niemanden angreifen. Ich bin die Polen-Rundfahrt noch nie gefahren, aber ich habe von anderen Rennfahrern gehört, dass die Rundfahrt eh schon sehr berühmt-berüchtigt ist. Ein Bergab-Sprint, bei dem man bis zu 85 km/h erreicht, da fragt man sich schon: Muss das sein?“, sagte Rick Zabel, der in Polen nicht im Einsatz ist, der Deutschen Presse-Agentur.

„Ein normaler Sprint mit 50-60 km/h ist schon schnell genug. Da muss man es nicht noch riskanter machen. Solche Zielankünfte sollten verboten werden. Es ist immer schade, dass erst was passieren muss, ehe solche Diskussionen entstehen“, sagte Rick Zabel.

Ähnlich sieht es Marcel Kittel. Er hoffe, dass die Frage nun ernsthaft diskutiert werde, ob es Bergab-Sprints mit Geschwindigkeiten von 80 km/h geben müsse, sagte der 14-malige Tour-Etappengewinner dem Münchner Merkur.

Voigt fordert harte Strafe

Auch Lotto-Soudal-Profi Roger Kluge stellte die Streckenführung in Frage und kritisierte zugleich das Verhalten einiger Kollegen. „Es ist ja schon seit Jahren die Frage, ob man an dieser Stelle das Ziel machen muss“, sagte er der Lausitzer Rundschau. „So etwas muss nicht sein. Einige Sprinter verlassen immer wieder ihre Linie. Wenn sie geradeaus fahren würden, dann würde es besser ausgehen.“

Der langjährige Radprofi Jens Voigt hat unterdessen nach dem schlimmen Crash von eine harte Strafe für Dylan Groenewegen gefordert.

„Ich denke da schon an drei bis sechs Monate. Es müsste etwas sein, was weh tut und auch an alle anderen Profis das Signal sendet: Hier wurde eine rote Linie überschritten, das akzeptieren wir nicht mehr“, sagte Voigt bei Sport1.

Man könne nicht mit dem Leben, der Karriere oder Gesundheit eines Kollegen spielen, sagte der 48-Jährige. „Wenn die Linie so offensichtlich verlassen wurde, Leib und Leben willentlich riskiert wurden, muss es eben auch härtere Strafen geben.“

Voigt gibt aber auch dem Weltverband UCI eine Mitschuld. „Der Veranstalter bittet die UCI um Genehmigung und Klassifizierung des Rennens und der Strecke, und die UCI und die technische Kommission überprüft das. Da sie das genehmigt hat, kann sie im Nachhinein ihre Hände nicht in Unschuld waschen und die Schuld auf den Veranstalter schieben“, sagte der 17-malige Tour-de-France-Teilnehmer.

Jahrestag des tödlichen Lambrecht-Unfalls

Roger Kluge selber war, wie auch Deutschlands Top-Sprinter Pascal Ackermann, in den fatalen Sturz bei der Polen-Rundfahrt, bei der sich Fabio Jakobsen so schwer verletzte, nicht involviert.

„Mir geht es gut. Ich hatte mega Glück im Zielsprint, dass ich die richtige Seite gewählt habe. Dort bin ich einigermaßen gut durchgekommen. Ich bin zwar 30 Kilometer vor dem Ziel auch gestürzt, aber letztlich kamen dabei nur ein paar Kratzer raus“, sagte er.

„Ich hatte verdammtes Glück, dass ich etwas zurück war mit meinem Sprint und die letzten 100 Meter habe rollen lassen. Sonst wäre ich auch dabei gewesen“, sagte Ackermann der Deutschen Presse-Agentur.

Auf den Tag genau vor einem Jahr war der Belgier Bjorg Lambrecht bei der Polen-Rundfahrt gestorben. Der gerade einmal 22 Jahre alte Radprofi war auf der Etappe nach Zabrze gegen eine Betonkonstruktion geprallt.

Zunächst wurde er vor Ort reanimiert, erlag aber während einer Operation im Krankenhaus seinen schweren Verletzungen. Lambrecht galt in Belgien neben Remco Evenepoel als das hoffnungsvollste Talent im Straßenradsport.

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weiterführende Informationen:
➡️ Homepage der Polen-Rundfahrt
➡️ Mitteilung Rennstall Deceuninck-Quick Step
➡️ Mitteilung Radsportweltverband UCI
➡️ weitere News aus dem Themengebiet „Radsport“

Update vom 07. August 2020:

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