Auf Schalke brodelt es: Aufgebracht durch die sportliche Talfahrt des Teams von Trainer David Wagner nehmen die Fans jetzt die Clubführung des Fußball-Bundesligisten um den Aufsichtratsvorsitzenden Clemens Tönnies, der aufgrund der Corona-Infektionen in seinem Unternehmen auch abseits des Fußballs unter Druck steht, ins Visier.
Der 64 Jahre alte Fleisch-Fabrikant aus Rheda-Wiedenbrück, der wegen der massenhaften Corona-Infektionen in seinem Unternehmen den verordneten Lockdown in den Kreisen Gütersloh und Warendorf mit zu verantworten hat, steht im Fokus der Attacken der Anhänger.
Bei den Fans ist eine explosive Mischung entstanden aus Ärger über die sportliche Dauerkrise und Wut auf die misslungene Corona-Politik der Clubführung, von der sie sich missachtet fühlen. In den Fan-Organisationen des Traditionsclubs laufen die Planungen für Proteste auf Hochtouren. Da die Anhänger seit dem Wiederbeginn der Bundesliga wegen des DFL-Hygienekonzepts nicht mehr in die Arena durften, um ihrem Ärger Luft zu machen, entlädt sich der Unmut vor allem im Netz.
Und sogar an der Kultstätte des Vereins: Am Eingang der ehrwürdigen Glückaufkampfbahn prangt ein Banner mit der Aufschrift: „Keine Ausbeuter bei S04 – Tönnies Raus!“ Und an einer Brücke und am Bauzaun des alten Parkstadions gab es Plakate mit gleichlautenden Rücktrittsforderungen. Und: „Keine Rassisten auf Schalke!“
Trotz der sich zuspitzenden Fokussierung auf Clemens Tönnies glauben Schalke 04 Ehrenpräsident Gerhard Rehberg und Stürmer-Idol Klaus Fischer nicht an einen vorzeitigen Rückzug des Chefs des S04-Aufsichtsrats. „Nein, denn Clemens Tönnies ist ein Kämpfer“, sagte Fischer der Sport Bild.
Der frühere Clubchef Rehberg ergänzte: „Ein Rücktritt würde nicht zu ihm passen. Ich kenne Clemens Tönnies fast 40 Jahre. Ich habe ihn immer als anständigen Menschen kennengelernt, er hat unheimlich viel für Schalke getan.“ Er habe sicher Probleme bei der Bekämpfung der Pandemie in seinem Unternehmen, „ich weiß aber, dass er mit voller Kraft daran arbeiten wird, die Krise zu bewältigen“.
Fans planen Aktion am 27. Juni
Mit einer Menschenkette – unter Wahrung der Hygienevorschriften – rund um das Vereinsgelände am Berger Feld und die Veltins-Arena wollen die Anhänger am 27. Juni (15.30 Uhr) während des letzten Saisonspiels der Mannschaft in Freiburg gegen Missstände und Fehlentwicklungen demonstrieren. „Schalke ist kein Schlachthof! Gegen die Zerlegung unseres Vereins“, lautet das Motto der vom Supporters Club unterstützen Aktion.
Sie richtet sich nicht allein gegen den mächtigen Clubchef, sondern auch gegen die noch verbliebenen Vorstände Alexander Jobst und Jochen Schneider. Marketing-Vorstand Jobst stammt aus Fulda, Sportvorstand Schneider ist Schwabe. Die Sorge der Schalker: Können sie die Nöte und Denkweise der Menschen im Ruhrgebiet verstehen?
Der Vorstand zeigte „Verständnis“ für die Fan-Wut und teilte der Funke Mediengruppe mit: „Wir glauben, nur im Dialog lässt sich das notwendige Vertrauen für eine bessere Zukunft zurückgewinnen und sind dazu jederzeit bereit.“
Die Fans gehen wegen des unglücklichen Agierens der Führungsriege von Schalke 04 um Clemens Tönnies während der Corona-Pandemie auf die Straße. Das über Jahrzehnte aufgebaute und gepflegte Image des Kumpel- und Malocherclubs sehen sie ernsthaft in Gefahr. Die Ultras Gelsenkirchen rechneten schon am Vortag mit den Clubchefs ab.
Die mit rund 1.000 Mitgliedern größte und einflussreichste Einzel-Fangruppierung bezeichnet die gesamte Saison als „moralische Bankrotterklärung“ und beklagt den „Ausverkauf der Schalker Werte“. Man habe Schalke bundesweit „der Lächerlichkeit preisgeben“, hieß es in einem offenen Brief.
Immer wieder neue Nahrung
Die Kritik erhält immer wieder neue Nahrung. Da ist der in der Fanszene als unverschämt wahrgenommene Umgang mit Karteninhabern, die ihren Anspruch auf Rückzahlung bezahlter Ticketgelder mit einem Härtefallantrag begründen sollten. Da ist die Kündigung von 24 geringfügig Beschäftigen im Fahrdienst der Nachwuchsabteilung Knappenschmiede. Auch der Rücktritt von Peter Peters nach 27 Jahren im Verein sorgte für keine Beruhigung.
Denn im Hintergrund lebt auch die von Clemens Tönnies befeuerte Diskussion um die von den Schalke-Fans abgelehnte Ausgliederung der Profi-Abteilung auf. Der Überblick über die Rechtsformen der Erstligisten weist die Schalker als einen von noch fünf verbliebenen Vereinen aus. Auch der Rauswurf von Medienchef Thomas Spiegel – ein Mann des Ausgleichs mit Verständnis für Fan-Belange – kam nicht gut an.
In der Vorstandsetage wirkt vieles unkoordiniert und empathielos. Die Außenwirkung ist verheerend. Dazu kommt der gewaltige Imageschaden für Club-Patron Tönnies, der mit seiner Firma mächtig unter Druck steht. Der 64-Jährige ist seit der Debatte um seine von vielen als rassistisch wahrgenommenen Äußerungen gegen Afrikaner als Gastredner bei einem Unternehmer-Treffen in Paderborn im August 2019 und dem merkwürdigen Umgang damit durch Schalkes Ehrenrat ohnehin angezählt.
Tönnies‘ einst große Beliebtheitswerte rauschen so schnell in den Keller wie die Infektionsraten in seinem Fleisch-Imperium ansteigen. Auch die Mängel bei der Unterbringung vieler Werksarbeiter aus Rumänien, Bulgarien und Polen stoßen bei den Schalke-Fans auf Unverständnis. Schließlich leben die meisten in der strukturarmen Region im Ruhrgebiet. Viele sind selbst nicht auf Rosen gebettet.
Die Kraft der Anhänger und die Dynamik der Proteste sind nicht zu unterschätzen. Schalkes Fanclub-Verband zählt mehr als 60.000 Mitglieder. Dazu kommen einflussreiche Einzel-Gruppierungen. Viele Fans treibt die Sorge um, dass sich die Krise im Tönnies-Unternehmen auf den Club ausweiten könnte. Club-Legende Gerald Asamoah hofft, dass es „keine größeren Auswirkungen“ hat. Sicher ist er aber nicht.
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