München (dpa) – Stundenlanges Warten vor den Eingängen, Ansturm auf die Bierzelte, glückliche Gesichter, ausgelassen singende und tanzende Menschen. Endlich wieder Wiesn. Nach zwei coronabedingt abgesagten Festen heißt es am Samstag: Ozapft is.
Obwohl es nasskalt ist und von dem eigentlich traditionellen Wiesn-Spätsommer keine Spur, strömen die Massen heran. Schon mittags bilden sich lange Schlangen vor den Zelten, nach dem Anstich am frühen Nachmittag ging an mehreren Zelten nichts mehr: wegen Überfüllung geschlossen. „Es ist, als wenn nichts gewesen wäre“, sagt Mandelverkäufer Manfred Ziegler.
Alles scheint wie immer bei diesem Volksfest, das oft das größte der Welt genannt wird. Und doch ist es anders. Denn jenseits des Festgeländes ist die Welt eine andere als bei der letzten Wiesn 2019: Inflation, Krieg, Energiekrise – und auch wenn auf dem Oktoberfest komplett ohne Corona-Auflagen gefeiert wird: Die Pandemie ist nicht vorbei.
Bierseliges Vergessen
Regelmäßig stiegen nach den Volksfesten die Infektionszahlen sprunghaft an – damit rechnen durchweg alle, von der Wissenschaft bis zur Politik, auch nach der Wiesn. Doch in den Zelten scheint bierseliges Vergessen angesagt.
Corona-Schutzmasken sind die absolute Ausnahme, dichtes Gedränge, die Krüge klirren – man kommt sich nah und näher. „Cordula grün“ wird gegrölt, der Wiesn-Hit aus der prä-pandemischen guten alten Zeit. Hendl werden im Akkord an die Tische geschleppt – während kurz zuvor draußen Tierschutzaktivisten versucht haben, den Einzug der Wiesn-Wirte auf das Festgelände zu stoppen.
Ministerpräsident Markus Söder, mit Ehefrau Karin Baumüller-Söder in der Anstich-Boxe dabei, wirft ihnen Spielverderberei vor. „Es gibt immer jemanden, der den Spaß verderben will.“ Und er legt nach mit Blick auf den wegen Sexismus umstrittenen Song „Layla“: „Diese ganze Verbotsdiskussion, die nervt. Wokeness mag interessant sein, aber wenn sie übertrieben ist, dann ist sie spießig. Und die Wiesn ist alles, nur nicht spießig.“
Söder: „Ich werde ein Hendl essen.“
Die Wiesn sei ein „Fest von Freude und Freiheit“. Jeder solle anziehen und essen, was er wolle, sagt Söder. „Ich werde ein Hendl essen.“ Er hatte sich stets für die Wiesn ausgesprochen. „Wir haben so schwere Zeiten hinter und, ich befürchte, noch so schwere vor uns. Umso wichtiger ist es dann, Kraft zu tanken“, sagt der CSU-Chef.
Einer, dem Kritiker auch gerne vorwerfen, er sei zu streng und habe etwas gegen Spaß, ist Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). „Ich möchte kein Spielverderber sein: Aber wer die Wiesn besucht, sollte trotzdem aufpassen“, sagt er, rät Vorerkrankten vom Besuch ab und ruft zum Testen auf.
Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD), der im Frühjahr erst nach reiflicher Überlegung grünes Licht für die Wiesn gegeben und sich darüber auch mit Söder gehakelt hatte, sagt nun: „Es war eine gute Entscheidung, und ich freue mich, dass wir es gemacht haben.“ Er freue sich auch darüber, „dass die Leute gut drauf sind“, sagt er – und sticht das erste Fass an.
Nichts sei zu spüren von der immer wieder beschworenen Zurückhaltung, sagt Festleiter Clemens Baumgärtner (CSU). „Ganz im Gegenteil: ein übervolles Zelt.“
Draußen, jenseits des Festgeländes, gibt es aber auch eine andere Stimmungslage. Mancher in München ist nicht begeistert über das Volksfest, das vor der Pandemie gut sechs Millionen teils weit aus dem Ausland angereiste Gäste anlockte. Denn die vorhergesagte Corona-Welle nach dem Fest trifft nicht nur Volksfestbesucher.
„Ogsteckt is“
Am Ende werde es heißen „Ogsteckt is“, mutmaßt ein Nutzer im Internet, wo auch von „Omikronfest 2022“ die Rede ist. Ein anderer schreibt: „Die geballte Un-Vernunft und Inkonsequenz Deutscher-Corona-Politik kumuliert nun im #Oktoberfest.“
Bekannt ist, dass die Kälte es Viren noch leichter macht – und in diesem Jahr bleibt zum Wiesn-Start dann auch noch der fast schon traditionelle Münchner Oktoberfest-Spätsommer aus: nasse Kälte, die Temperatur schwankt um ungemütliche zehn Grad.
Marianne Hartl, die mit Ehemann Michael zum Anstich gekommen ist, nennt die Rückkehr auf die Wiesn „ein unbeschreibliches Gefühl“. „Es ist nicht selbstverständlich. Die Leute wissen es zu schätzen, dass wir alle wieder da sein dürfen“, sagt sie und spricht von einer „großen Dankbarkeit“. Die Wiesn durchzuziehen, das sei die richtige Entscheidung gewesen. „Es muss ja weitergehen.“
Das scheint auch Stammgast Günter Werner (79) so zu sehen: Nach der langen Corona-Pause sitzt er auch an diesem Anstichs-Samstag wie eh und je auf seinem Stammplatz. Auch diesmal hat er an jedem einzelnen Wiesn-Tag reserviert, wie seit über 60 Jahren. Mit frischem Hopfen und neuen Fasanenfedern am Hut sagt er: „Die Vorfreude ist riesig – Corona hab‘ ich gehabt, und wenn ich’s wieder krieg‘, dann krieg‘ ich’s halt.“
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