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„Sarg noch mal geöffnet“ – 1. FC Nürnberg und die Last-Minute-Rettung

Nürnbergs Trainer Michael Wiesinger jubelt beim Abpfiff. Foto: Matthias Balk/dpa
Nürnbergs Trainer Michael Wiesinger jubelt beim Abpfiff. Foto: Matthias Balk/dpa

Der 1. FC Nürnberg wandelt in Ingolstadt am Abgrund zur 3. Liga – bis zur Last-Minute-Rettung in der 96. Minute. Dann wird Joker Fabian Schleusener zum ultimativen Club-Retter. Die „desaströse“ Saison erlaubt aber kein „Weiter-So“.

Nach der Last-Minute-Rettung und der kurzen Busfahrt zurück nach Nürnberg erlebten die Relegations-Glücksritter um den neuen Club-Helden Fabian Schleusener einen Fan-Empfang mit Pyrotechnik und überkochenden Emotionen.

Es brannte Samstagnacht am Valznerweiher – so wie wenige Stunden zuvor nach dem dramatischen 1:3 (0:0) gegen den FC Ingolstadt im nur 90 Kilometer entfernten Audi-Sportpark.

Der aufgewühlte Interimscoach Michael Wiesinger bündelte nach dem irgendwie doch noch erfüllten Rettungsauftrag das irre Geschehen in drastischen Worten: „Mit unserem «Club», unserem 1. FC Nürnberg, in der 96. Minute den Sarg noch mal zu öffnen, herauszusteigen und die 2. Liga zu sichern, hat mich sehr bewegt.“

In der sechsten Minute der Nachspielzeit hatte Joker Schleusener mit seinem Auswärtstor die Franken, die das Hinspiel 2:0 gewonnen hatten, vor der Drittliga-Katastrophe bewahrt und einer Alptraum-Saison doch noch ein glückliches Ende beschert.

„Ich habe ein Gefühlschaos in mir. Ich weiß nicht, ob ich jemals so viele Männer in Tränen gesehen habe. Unfassbar, was hier heute passiert ist“, stammelte Schleusener. 2019 hatte er sich noch im Trikot des SV Sandhausen in Ingolstadt das Schienbein gebrochen – jetzt verließ er die Arena als Triumphator.

Pöbeleien, Beschimpfungen, erhobene Fäuste: Die Nerven gingen nach dem Abpfiff auch ohne Fans im Inneren des Audi-Sportparks bei einigen Akteuren wie Ingolstadts wütendem Kapitän Stefan Kutschke durch. Die Gemüter ließen sich nach gegenseitigen Provokationen kaum beruhigen.

Nürnberg vor Umbruch

Das Saisonfinale passte zur vermurksten Saison des neunmaligen deutschen Meisters ein Jahr nach dem neunten Bundesliga-Abstieg. Ein Weiter-so kann es nach der Last-Minute-Rettung in Nürnberg nicht geben.

Vor der Trainerfrage muss die Zukunft von Sportvorstand Robert Palikuca (42) geklärt werden. Der Kroate stellte einen Kader zusammen, der die Bundesliga-Rückkehr bewerkstelligen sollte. Zwei Trainer – Damir Canadi und Jens Keller – holte und entließ Palikuca, den viele Fans als Schuldigen sehen.

Der fix und fertige Aufsichtsratschef Thomas Grethlein kündigte zeitnah Gespräche in den Führungsgremien an. Er warnte vor „übereilten Kurzschlusshandlungen“, sieht aber Handlungsbedarf nach „einer desaströsen Saison, die haarscharf an der Katastrophe vorbeigeschrammt ist“. Der nächste große Umbruch bahnt sich an, auch wenn die Corona-Krise die Handlungsmöglichkeiten begrenzen dürfte.

Dabei schien nach dem 2:0 im Hinspiel die Weiche für den Klassenverbleib bereits gestellt. Ausgerechnet Fabian Nürnberger, der im März positiv auf Corona getestet wurde, wurde zum Matchwinner. „Ein Nürnberger macht den Unterschied“, lautete eine der Überschriften. Nürnberger erklärte: „Das war natürlich ein guter Zeitpunkt für meine ersten Profi-Tore.“ Trainer Wiesinger, der vor 24 Jahren den Absturz in die Drittklassigkeit als Spieler erlebte, warnte aber vor dem Rückspiel.

Und nach drei Freistößen von Marcel Gaus, die in Windeseile zu drei Ingolstädter Toren von Kutschke, Tobias Schröck und Robin Krauße führten, blickte der Club im Rückspiel wie 1994 in den Abgrund zur Drittklassigkeit – nach dem 2:0 hätte das 0:3 in der Relegation den Abstieg bedeutet. Doch dann kam Fabian Schleusener, dessen 1:3 den Klassenverbleib über die Auswärtstoreregel bedeutet und Nürnberg die Last-Minute-Rettung bescherte.

„So eine Saison darf es nicht mehr geben.“

„Die Legende lebt!“, sagte der flennende FCN-Torwart Christian Mathenia. „Ausnahmsweise ist der Club kein Depp“, meinte Kapitän Hanno Behrens. Der freie Fall von der ersten in die dritte Liga wurde unmittelbar vor dem Aufprall gestoppt.

Die Ingolstädter hingegen tobten. Der Drittligist fand den Buhmann in Schiedsrichter Christian Dingert, der länger als die angezeigten fünf Minuten nachspielen ließ und sich ein vermeintliches Foul vor Schleuseners Torgrätsche nicht selbst ansah, sondern allein der Einschätzung des Video-Assistenten vertraute.

„Die Mannschaft hat Unglaubliches geleistet, dann wirst du so bestraft, das ist brutal“, stöhnte Ingolstadts Trainer Tomas Oral, der mit dem FCI vor einem Jahr in der Relegation abgestiegen war. Schon am letzten Drittliga-Spieltag war den Oberbayern der Zweitliga-Aufstieg von den Würzburger Kickers entrissen worden, die in der Nachspielzeit einen fragwürdigen Elfmeter erhielten und verwandelten. „Ich weiß nicht, was wir verbrochen haben“, haderte Torwart Marco Knaller.

„Wir müssen uns beim Fußball-Gott bedanken“, sagte derweil Wiesinger. Der 47-Jährige schloss spontan „komplett“ aus, dauerhaft Trainer zu bleiben. Er plant die Rückkehr auf den Posten des Nachwuchsleiters. Einen letzten Auftrag erteilte der ehemalige Club-Profi aber noch der Vereinsführung: „So eine Saison darf es nicht mehr geben.“

© dpa-infocom, dpa:200712-99-759280/3

FCN-Video: Pressekonferenz nach dem Rückspiel

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