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Minister entschuldigt sich: Belarus lässt Gefangene frei

Demonstranten in Minsk zeigen das «Victory»-Zeichen bei einem Protest gegen das Wahlergebnis der Präsidentenwahl. Foto: Sergei Grits/AP/dpa
Demonstranten in Minsk zeigen das «Victory»-Zeichen bei einem Protest gegen das Wahlergebnis der Präsidentenwahl. Foto: Sergei Grits/AP/dpa

Nach Tagen massiver Polizeigewalt gegen Demonstranten in Belarus lenkt der Machtapparat unter dem autoritären Präsidenten Lukaschenko erstmals ein: Hunderte Gefangene kamen frei. Die Bürger feiern das als Sieg – vor einer wichtigen Sitzung der EU-Außenminister.

Nach Tausenden Festnahmen bei den Protesten gegen Präsident Alexander Lukaschenko in Belarus – wie der seit einigen Jahren vom Außenministerium offiziell verwendete Name für Weißrussland lautet – haben die Behörden überraschend viele Gefangene frei gelassen.

Vor dem Gefängnis Okrestina in der Hauptstadt Minsk nahmen Familien und Freunde zutiefst erleichtert ihre Angehörigen in Empfang, es gab große Freude und Tränen, wie in oppositionsnahen Kanälen des Nachrichtendienstes Telegram in der Nacht zum Freitag zu sehen war.

Viele berichteten von schweren Misshandlungen im Gefängnis und zeigten ihre Wunden. Bis zum Morgen, 6.00 Uhr (5.00 Uhr MESZ), solle ein Großteil der bei Protesten in den vergangenen Tagen Festgenommenen wieder in Freiheit kommen, teilten die Behörden mit.

Die Rede war von mehr als 1.000 Gefangenen. Es handele sich um Menschen, die am Rande nicht genehmigter Proteste ohne Grund festgenommen worden seien, hieß es. Die Gesamtzahl hatte bei rund 7.000 gelegen.

Einlenken des Machtapparats

Es war das erste Mal seit Tagen, dass der Machtapparat unter Lukaschenko, der als letzter «Diktator Europas» gilt, einlenkte. Tausende hatten auch am Donnerstag seinen Rücktritt gefordert.

Staatsmedien berichteten, dass Lukaschenko am Donnerstagabend selbst angewiesen habe, sich um die Lage der Gefangenen zu kümmern. Er reagiere damit auf die Proteste von Arbeitskollektiven in den Staatsbetrieben der Ex-Sowjetrepublik, hieß es.

Unklar ist, wie sich die Lage in dem Land zwischen Russland und dem EU-Mitglied Polen weiter entwickelt. Ein Massenstreik in Unternehmen könnte dem wirtschaftlich angeschlagenen Land schwer schaden.

Mitarbeiter des Automobilwerks BelAZ verlangten Berichten zufolge, dass die dort produzierten Fahrzeuge nicht an die Polizei geliefert werden sollten, die zuletzt brutal gegen Demonstranten vorging.

Entschuldigung des Innenministers

Innenminister Juri Karajew entschuldigte sich unterdessen im Staatsfernsehen bei den Bürgern für die Festnahme vieler Unschuldiger. Bei Polizeieinsätzen gegen Massenproteste komme es auch zu versehentlichen Festnahmen, sagte er.

„Als Kommandierender möchte ich die Verantwortung übernehmen und mich ehrlich auf menschliche Weise entschuldigen bei diesen Menschen“, sagte Belarus-Innenminister Karajew, während erste Gefangene bereits frei gelassen wurden.

Zuvor hatten viele Belarussen ihre Uniformen demonstrativ in den Müll geworfen oder verbrannt beziehungsweise ihre Dienstmarken abgegeben. In den sozialen Medien kursierten viele solcher Videos. Zu sehen waren auch Familienväter, die ihre Kollegen zum Gewaltverzicht aufriefen. Die Echtheit dieser Videos lässt sich nicht überprüfen.

Proteste und Polizeigewalt halten an

Seit Tagen gehen die Menschen in Minsk auf die Straße und protestieren. Foto: Sergei Grits/AP/dpa
Seit Tagen gehen die Menschen in Minsk auf die Straße und protestieren. Foto: Sergei Grits/AP/dpa

In der Hauptstadt Minsk und anderen Städten des Landes versammelten sich Menschen und forderten, dass Swetlana Tichanowskaja als die wahre Siegerin der Präsidentschaftswahl vom Sonntag anerkannt wird.

Tausende Frauen mit Blumen in den Händen bildeten auf Straßen Menschenketten, wie mehrere Medien in Belarus berichteten. Auf Plakaten war etwa „Blumen statt Gewehrkugeln“ zu lesen.

Das Menschenrechtszentrum Wesna (Frühling) beklagte zuvor erneut „übermäßige Polizeigewalt“. Es seien Gummigeschosse und Blendgranaten auf friedliche Demonstranten abgefeuert worden. Die Uniformierten hätten in mehr als zehn Städten des Landes Proteste gewaltsam aufgelöst.

Es hatte Hunderte Verletzte gegeben. Eine Mutter aus Gomel hatte den Behörden vorgeworfen, dass ihr Sohn am Sonntag auf dem Weg zu seiner Freundin gefasst worden sei. Er habe nicht an Protesten teilgenommen. Der 25-Jährige starb wenig später unter ungeklärten Umständen im Krankenhaus, wie die Polizei bestätigte.

Kündigung bei Staatsmedien

Der Journalistenverband von Belarus berichtete zudem von massiver Gewalt gegen Medienschaffende. Mehr als 60 Journalisten seien in den vergangenen Tagen festgenommen worden.

Derweil kündigen immer mehr prominente Mitarbeiter von Staatsmedien aus Protest. Darunter ist der bekannte Moderator des Staatsfernsehens, Jewgeni Perlin, der angesichts der „Lügen“ und „Gewalt“ seinen gut bezahlten Posten hinwarf.

Journalisten von Staatsmedien hatten zudem in einem offenen Brief am Donnerstag ein Ende der Lügen-Propaganda gefordert und die Verunglimpfung friedlicher Bürger in ihren Sendern kritisiert.

An diesem Freitag soll es wegen der öffentlichen Kritik der vom Staat bezahlten Journalisten ein Treffen mit der Regierung von Belarus geben – auch gefangene Medienschaffende frei zu lassen, könnte ein Entgegenkommen des Regimes sein.

80 Prozent für Lukaschenko?

Belarus hatte am Donnerstag ein Land in Aufruhr gesehen. Es waren die größten Proteste landesweit seit der von Fälschungsvorwürfen überschatteten Präsidentenwahl vom Sonntag. Lukaschenko hatte sich zum sechsten Mal in Folge als Sieger ausrufen lassen – mit laut Wahlbehörde 80 Prozent.

Es gibt viele Beweise für Fälschungen bei den Wahlen, die nicht unter Beobachtung der OSZE standen. Die Forderungen von Lukaschenkos Gegnern reichen von Neuauszählung der Stimmen über eine Anerkennung des Wahlsieges seiner Gegnerin Swetlana Tichanowskaja bis hin zu einem Rücktritt des Präsidenten und Neuwahlen.

Menschen veröffentlichten von Betriebsversammlungen viele Videos, auf denen zu sehen war, dass die große Mehrheit der Bürger für die 37 Jahre alte Tichanowskaja gestimmt hatte. Sie war auf Druck der Behörden in das EU-Nachbarland Litauen ausgereist – zu ihren Kindern, die sie aus Angst um deren Sicherheit schon vorher hatte ins Exil bringen lassen.

Russland rechnet mit „Normalisierung“

Die Staatsmedien berichten seit Tagen, dass die Proteste aus dem Ausland gesteuert und die Menschen manipuliert seien. Der 65-jährige Lukaschenko hatte auch erklärt, bis zum Schluss um seine sechste Amtszeit zu kämpfen – notfalls mit dem Einsatz der Armee.

Dass das Ausland die Proteste anheize, erklärte auch die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, in Moskau. Sie fügte an: „Wir rechnen eigentlich damit, dass sich die Situation im Land bald wieder normalisiert und ruhig wird.“

Russland rufe alle zur Zurückhaltung und Besonnenheit auf. Bislang hat sich Moskau kaum zu den Ereignissen in der Ex-Sowjetrepublik geäußert. Belarus ist wirtschaftlich massiv abhängig vom Dauerverbündeten Russland.

EU-Außenminister beraten über Sanktionen

An diesem Freitag wollen Außenminister der Europäischen Union über die Lage in Belarus beraten. Im Raum stehen mögliche Sanktionen gegen die autoritäre Führung in Minsk, dass vorher Gefangene in Belarus frei gelassen wurden, könnte die Position etwas verbessern.

Der deutsche Außenminister Heiko Maas kündigte deutlich mehr Druck auf den Machtapparat in Minsk an. Mit den Partnern werde intensiv über neue Sanktionen gesprochen, sagte der SPD-Politiker einen Tag vor der geplanten Sondersitzung der EU-Außenminister zu Belarus.

Es sei vollkommen klar, dass das Vorgehen der Sicherheitskräfte in Belarus „im Europa des 21. Jahrhundert nicht akzeptabel ist“. Strafmaßnahmen müssen aber von allen EU-Mitgliedstaaten einstimmig mitgetragen werden.

Beobachter halten es für möglich, dass sich Staatschef Lukaschenko nach 26 Jahren wegen des Wahlbetrugs und der bisher beispiellosen Gewalt gegen Bürger nicht mehr im Amt halten kann. Er hatte die Demonstranten zuletzt als arbeitslose Ex-Kriminelle bezeichnet – und damit noch mehr Wut ausgelöst.

© dpa-infocom, dpa:200814-99-161375/2
© dpa-infocom, dpa:200813-99-147641/8

weiterführende Informationen:
➡️ Offizielle Webseite von Lukaschenko
➡️ Youtube-Kanal der Opposition Strana dlja Schisni
➡️ Staatsagentur Belta
➡️ Kampagne von Swetlana Tichanowskaja

News vom 11. August 2020:

News vom 10. August 2020:

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