London (dpa) – Nach einer wilden WM-Generalprobe umarmte Bundestrainer Hansi Flick seinen Kollegen Gareth Southgate und klatschte all seine Spieler ab, doch das positive Signal für Katar war leichtfertig verspielt.
Nach einer 2:0-Führung gab die deutsche Fußball-Nationalmannschaft zum Abschluss der Nations League am Montagabend in England in gut elf Minuten alles aus der Hand, ehe der zweifache Torschütze Kai Havertz gerade noch das glückliche 3:3 (0:0) rettete. Die durch das 0:1 gegen Ungarn plötzlich aufgekommenen WM-Zweifel konnten somit nicht vertrieben werden.
„Schnell drei Tore gefangen. Das darf nicht passieren“
„Es war ein guter Test. Ich nehme viele positive, aber auch ein paar negative Dinge mit“, sagte Flick beim TV-Sender RTL und ergänzte: „Die erste Halbzeit war ausgeglichen. In der zweiten Halbzeit haben wir es 20 Minuten ganz gut gemacht und verdient 2:0 geführt. Dann haben wir individuelle Fehler gemacht und schnell drei Tore gefangen. Das darf nicht passieren.“ Der Bundestrainer lobte aber, dass sein Team noch zurückgekommen sei.
58 Tage vor dem Eröffnungsspiel gegen Japan sah es danach aus, als würde Flick die Wiedergutmachung gelingen. Ilkay Gündogan per Foulelfmeter (53. Minute) und Havertz (67.) sorgten vor 78 949 Zuschauern für eine klare Führung. Doch England bestrafte die folgenden Abwehrfehler und drehte durch Luke Shaw (72.), Mason Mount (75.) und Harry Kane (83., Foulelfmeter) das Blatt, bevor Havertz doch noch der Ausgleich gelang (87.).
Der Bundestrainer entlässt seine WM-Kandidaten nun mit einem mauen Gefühl in einen intensiven Oktober mit Bundesliga und Champions League. Es gibt noch sehr viel zu tun. „Nach dem 2:0 werden wir viel zu passiv, verteidigen viel zu tief. Wir haben nicht mehr den Mut, gegen den Ball zu spielen. Eigentlich unerklärlich“, sagte Joshua Kimmich, der aber trotzdem Zuversicht verbreitete: „Eine Verbesserung war es auf jeden Fall, was Körpersprache, Engagement, Kontrolle vom Spiel angeht. Jeder Spieler hat nochmal sechs Wochen Zeit, sich ein gutes Gefühl zu holen. Dann werden wir angreifen.“ Ähnlich sah es Havertz: „Wir haben sieben Wochen Zeit, die Fehler abzustellen. Vielleicht war es ein gutes Spiel zum Lernen.“
England entfachte wenig Begeisterung
Bevor der Ball rollte, gab es erst einmal eine Schweigeminute für die jüngst gestorbene Königin Elizabeth II. – und selten war es in einem Fußball-Stadion derart leise wie dieses Mal in Wembley. Viel lauter wurde es aber auch danach nicht. Denn die Gastgeber konnten zunächst wenig Begeisterung entfachen, die Unsicherheiten waren nach den jüngsten Negativerlebnissen mit dem Abstieg aus der Nations League bei den Three Lions spürbar.
Die deutsche Mannschaft agierte etwas aktiver, attackierte früher und war nach der Ungarn-Pleite deutlich fokussierter. Man habe ein bisschen was gut zu machen, hatte Flick betont: „Ich erwarte, dass die Mannschaft Präsenz zeigt, dass sie Dominanz und Selbstvertrauen im Spiel hat.“
Das große Risiko scheuten aber beide Mannschaften. Die optische Überlegenheit des DFB-Teams brachte lange nichts ein. Dabei hatte Flick seine Offensive umgestellt. Thomas Müller, Timo Werner und Serge Gnabry mussten auf die Bank, dafür kamen Jamal Musiala und Kai Havertz neben dem nach vorne gezogenen Jonas Hofmann neu ins Team.
Musiala kam kaum zur Entfaltung
Vor allem von Musiala hatte sich Flick mehr Offensivkraft erhofft. Doch der Heimkehrer – der 19-Jährige spielte einst in Englands Nachwuchsmannschaften – wurde von den Gastgebern quasi in Manndeckung genommen und kam so in der Zentrale kaum zur Entfaltung. Die einzige deutsche Torchance in den ersten 45 Minuten resultierte aus einem Distanzschuss von Kimmich knapp neben das Tor (45.+2).
Da waren die Engländer mit ihrem schnellen Umschaltspiel schon gefährlicher. Vor allem Raheem Sterling hatte die Riesenchance zur Führung, als er Nico Schlotterbeck gekonnt aussteigen ließ, dann aber an dem glänzend parierenden Marc-André ter Stegen scheiterte (25.). Schlotterbeck war für den gesperrten Antonio Rüdiger in die Innenverteidigung neben seinem Dortmunder Kollegen Niklas Süle gerückt. Eine weitere gute Gelegenheit besaß Harry Kane im Anschluss an eine Ecke, als er den Ball knapp neben das Tor setzte (27.). Da wäre ter Stegen geschlagen gewesen.
Bloß nicht mit einer Niederlage zur WM! Entsprechend engagiert ging auch Flick in der Coaching-Zone zu Werke. Der Bundestrainer suchte nach Lösungen und brachte zur zweiten Halbzeit Werner, der auch gleich mal durch Kimmich in Szene gesetzt wurde (50.).
Plötzlich erspielte sich Deutschland Chancen
Die Führung bekam das DFB-Team aber eher von den Gastgebern in Person von Harry Maguire serviert. Der Verteidiger, der einst für 87 Millionen Euro zu Rekordmeister Manchester United gewechselt war, leistete sich einen schlimmen Fehlpass auf Musiala und trat dem Münchner anschließend beim Klärungsversuch auch noch gegen das Schienbein. Der VAR meldete sich, es gab zurecht Elfmeter. Gündogan verwandelte sicher, sein sechstes Tor beim sechsten Strafstoß.
Das Tor gab dem viermaligen Weltmeister Sicherheit. Auch die Umstellung – Havertz übernahm die Position von Musiala, der nun über außen viel wirkungsvoller war – machte sich bezahlt. Plötzlich erspielte sich Deutschland gegen die immer unsicherer agierenden Gastgeber Chancen. Dabei hätte Werner bei zwei Großchancen etwas für sein nicht gerade übersteigertes Selbstvertrauen tun können (59. und 62.).
Dafür glänzte Werner als Vorbereiter. Nachdem sich der völlig indisponierte Maguire in der gegnerischen Hälfte verdribbelte, ging es schnell. Über Musiala und Werner kam der Ball zu Havertz, der den Ball gekonnt vom Sechzehner ins obere Toreck schießt.
Führung verspielt
Doch wie zerbrechlich das deutsche Gefüge derzeit ist, zeigte sich im Anschluss. Erst wurde Shaw beim Anschlusstor auf der linken englischen Seite sträflich allein gelassen. Dann spazierte Bukayo Saka ungehindert durch das deutsche Mittelfeld und legte dem ebenfalls eingewechselten Mount zum Ausgleichstreffer auf. Und es kam noch schlimmer: Nach einem Foul von Schlotterbeck an den BVB-Kollegen Jude Bellingham, gab es Elfmeter, den Kane ganz sicher verwandelte. In elf Minuten hatte Deutschland alles verspielt, ehe Havertz nach einem Torwartfehler doch noch den Punkt rettete.
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