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Rasche Erfolge Russlands nach Teilmobilisierung fraglich

Knapp sieben Monate nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine hat Russland eine Teilmobilmachung der eigenen Streitkräfte angeordnet. Foto: Uncredited/AP/dpa
Knapp sieben Monate nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine hat Russland eine Teilmobilmachung der eigenen Streitkräfte angeordnet. Foto: Uncredited/AP/dpa

Nach Putins Teilmobilisierung äußern Experten Zweifel an den Organisationsfähigkeiten des russischen Militärs. Ein erstes Fazit: Der Kreml zögert die Niederlage wahrscheinlich lediglich hinaus.

Berlin/London (dpa) – Westliche Militärexperten bezweifeln, dass Russland mit seiner Teilmobilisierung das Kriegsgeschehen in der Ukraine rasch zu seinen Gunsten wenden kann. Die Soldaten würden in erster Linie für die Rotation erschöpfter Truppen sowie das Halten von Stellungen über den Winter hinweg gebraucht, schrieben Militärexperten auf Twitter.

Das renommierte Institute for the Study of War schätzte ein: „Russlands Teilmobilisierung wird der Ukraine nicht die Möglichkeit nehmen, mehr besetztes Gebiet bis zum und im Winter zu befreien“. Weiter hieß es in dem am Donnerstag veröffentlichten Lagebericht, dass Russland mit der Teilmobilisierung keine bedeutsame, einsetzbare Kampfkraft für die kommenden Monate erzeuge.

„Das ist eine erschöpfte Truppe“

Der Militärexperte Mick Ryan schrieb auf Twitter, dass die russischen Truppen seit fast acht Monaten im Kampfeinsatz in der Ukraine seien, was mehr als die üblichen drei bis vier Monate seien. „Das ist eine erschöpfte Truppe, die eine Rotation benötigt. Diese Rotation wäre ohne Teilmobilisierung nicht möglich gewesen.“ Es gehe mehr um Rotation und Ersatz als um den Aufbau von irgendeiner großen Offensivkraft Russlands.

Der Militärhistoriker Phillips P. OBrien schrieb auf Twitter, die Teilmobilisierung sei ein Minimum gewesen, was Russlands Präsident Wladimir Putin tun konnte. Ansonsten hätte seiner Armee die Gefahr gedroht, dass ihr die Soldaten in der ersten Hälfte 2023 ausgehen. „Das scheint mehr ein Schritt zu sein, der die Niederlage Russlands hinauszögert.“

Alex Lord von der Sibylline Strategic Analysis Firm in London sagte CNN: „Das russische Militär ist derzeit nicht dafür ausgerüstet, schnell und effektiv 300.000 Reservisten einzusetzen. Russland kämpft jetzt schon damit, seine professionellen Kräfte in der Ukraine effektiv einzusetzen – nach den bedeutsamen Verlusten an Ausrüstung während des Krieges.“

Der Militärexperte Rob Lee schrieb auf Twitter: „Dieser Schritt ist dazu konzipiert, einen Zusammenbruch der russischen Linien vor dem Frühling zu verhindern.“ Das werde kurzfristig helfen, aber nicht auf lange Sicht.

Der deutsche Militärexperte Nico Lange sagte im Interview mit dem Sender Bayern 2 (radioWelt am Morgen): „Militärisch wird so eine Mobilmachung jetzt nicht weiterhelfen.“ Die Teilmobilmachung führe nun zu schlechter Stimmung in Russland, und viele junge Männer würden versuchen, das Land zu verlassen.

London: Russland hat Probleme mit Teilmobilisierung

Großbritannien zweifelt an Russlands Fähigkeiten zur angeordneten Teilmobilisierung von 300.000 Reservisten für den Krieg gegen die Ukraine.

„Russland wird wahrscheinlich mit logistischen und administrativen Herausforderungen zu kämpfen haben, die 300.000 Soldaten auch nur zu mustern“, teilte das Verteidigungsministerium in London am Donnerstag unter Berufung auf Geheimdiensterkenntnisse mit. Die russische Militärführung werde vermutlich versuchen, mit den ausgehobenen Truppen neue Einheiten aufzustellen. Diese seien aber „wahrscheinlich monatelang nicht kampffähig“, hieß es weiter.

Das britische Verteidigungsministerium veröffentlicht seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine Ende Februar unter Berufung auf den Geheimdienst täglich Informationen zum Kriegsverlauf. Damit will die britische Regierung sowohl der russischen Darstellung entgegentreten als auch Verbündete bei der Stange halten. Moskau wirft London eine gezielte Desinformationskampagne vor.

Teilmobilisierung als Zeichen von Schwäche gewertet

Das Ministerium wertete die Teilmobilisierung darüber hinaus als Zeichen russischer Schwäche. „Der Schritt ist praktisch ein Eingeständnis, dass Russland seinen Vorrat an willigen Freiwilligen für den Kampf in der Ukraine erschöpft hat“, betonte die Behörde. Die Einberufungen dürften zudem sehr unbeliebt in der Bevölkerung sein, hieß es weiter. In der Hoffnung, dringend benötigte Kampfkraft zu generieren, gehe Präsident Wladimir Putin „ein beträchtliches politisches Risiko“ ein.

Die Osteuropa-Expertin Gwendolyn Sasse sieht nach der Teilmobilmachung in Russland erste kleine Veränderungen der gesellschaftlichen Stimmung. Es gebe kleinere Proteste, Flüge aus Russland heraus seien überbucht. „Das wird sich fortsetzen“, sagte Sasse am Donnerstag im ZDF-„Morgenmagazin“. Vor allem jüngere Männer, die sich mit der Beurteilung des Krieges bisher zurückgehalten hätten, dürften ihre Haltung nach Ankündigung der Teilmobilmachung im Krieg gegen die Ukraine ändern. Klar sei aber auch, dass es im Moment keine Mobilisierung „von unten“ gegen Präsident Wladimir Putin gebe.

Putin hatte am Vortag die Teilmobilisierung von 300.000 Reservisten angeordnet, um personelle Lücken im Angriffskrieg gegen die Ukraine zu schließen.

© dpa-infocom, dpa:220922-99-855095/5

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