Nach ersten erfolgversprechenden Ergebnissen zum Einsatz des Entzündungshemmers Dexamethason bei schweren Corona-Verläufen warnen deutsche Experten vor verfrühter Euphorie.
Eine abschließende Einschätzung zur Qualität sei erst möglich, wenn die Originaldaten ausführlich gesichtet seien, sagte Maria Vehreschild, Leiterin des Schwerpunkts Infektiologie am Universitätsklinikum der Goethe-Universität Frankfurt.
Tedros Adhanom Ghebreyesus, Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), hatte in einem Statement der WHO die Ergebnisse als „großartige Neuigkeiten“ bezeichnet. Endlich sei ein Mittel gefunden, das die Sterblichkeit von Covid-19-Patienten verringere.
Vorläufige Ergebnisse der klinischen Studie weisen darauf hin, dass die Sterberate bei Patienten, die künstlich beatmet werden und Dexamethason bekommen, um ein Drittel sinken könnte. Die Daten sind allerdings noch nicht in einem Fachjournal veröffentlicht und von anderen Experten begutachtet, sie wurden von der Universität Oxford lediglich in einer Mitteilung verkündet.
Studie noch nicht veröffentlicht
Wichtig sei unter anderem, die Nebenwirkungen noch weiter aus den Daten herauszuarbeiten, so Vehreschild. Zu prüfen sei auch, ob die beiden Patientengruppen – Dexamethason-Gruppe und Vergleichsgruppe – wirklich vergleichbar waren, erklärte der Pneumologe Tobias Welte von der Medizinischen Hochschule Hannover. „Bevor man das vollständige, durch unabhängige Gutachter beurteilte Manuskript gesehen hat, kann man die Wertigkeit der Studie nicht beurteilen.“
Zu bedenken sei bei den Ergebnissen auch, dass Dexamethason die Immunantwort gegen das Corona-Virus bremst und so dazu führen könnte, dass das Virus langsamer eliminiert wird, ergänzte Bernd Salzberger, Bereichsleiter Infektiologie am Universitätsklinikum Regensburg und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie.
Laut Chefarzt der Infektiologie und Tropenmedizin am München Klinik Schwabing, Clemens Wendtner, muss geprüft werden, inwieweit der Mehrwert von Steroiden wie Dexamethason hinsichtlich der Sterberate mit schweren Infektionen anderer Art – sogenannten Superinfektionen – erkauft werden muss.
Dexamethason gehört zu den sogenannten Glucocorticoiden, zu denen etwa auch Kortison zählt. Der Wirkstoff wird seit mehr als 50 Jahren in der Medizin eingesetzt. In der Recovery-Studie wird die Eignung verschiedener solcher schon länger zugelassener Medikamente als Mittel gegen Covid-19 geprüft.
Der Dexamethason-Teil der Corona-Studie umfasste rund 2.100 Patienten. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass bei der Behandlung mit Dexamethason im Mittel von je acht schwerkranken Covid-19-Patienten ein Todesfall verhindert werden könnte.
Dexamethason wäre sofort einsatzbereit
„Dexamethason ist kostengünstig, verfügbar und kann sofort eingesetzt werden, um weltweit Leben zu retten“, erklärte Peter Horby, einer der Leiter der Recovery-Studie.
Auch Maria Vehreschild von der Goethe-Universität Frankfurt sagte, dass sie keine grundsätzlichen Hürden bei der Verabreichung und Verfügbarkeit sehe, da der Wirkstoff bereits zugelassen und die Applikation über die Vene oder als Tablette möglich sei.
„Aus biologischer Sicht ist dieser Effekt nicht völlig überraschend, da insbesondere die schwer erkrankten Patienten unter einer überschießenden Immunreaktion leiden“, erklärte Vehreschild. Kortison sei ein klassischer Behandlungsansatz, um das Immunsystem zu unterdrücken. „Überraschend ist aber die Stärke des nachgewiesenen Effektes.“
Dexamethason ist in vielen Medikamenten enthalten, die das Immunsystem unterdrücken, um allergische und entzündliche Prozesse zu stoppen. Der Wirkstoff wird in der Neurologie, der Onkologie, bei Atemwegserkrankungen und in vielen anderen Bereichen genutzt.
Spannend werde sein, ob andere Interventionen gegen ein überschießendes Immunsystem wie der Einsatz von teuren Interleukin-1- oder Interleukin-6-Rezeptor-Blockern vergleichbare Effekte haben, erklärte Wendtner.
„Angesichts des insgesamt nur kleinen, wenn auch signifikanten Herabsetzens der Sterblichkeitsrate durch Steroide bleibt die beste Medizin die Verhinderung der Covid-19-Erkrankung durch einen effizienten Impfstoff“, so Wendtner. Der Bund war zuletzt dafür bei dem mRNA-Entwickler Curavec eingestiegen.
Recovery Studie
In der Recovery-Studie untersuchen Wissenschaftler die Eignung verschiedener bereits zugelassener Medikamente als Mittel gegen Covid-19. Insgesamt sind den Angaben zufolge mehr als 11.500 Patienten aus über 175 Kliniken in Großbritannien in die Studie aufgenommen. Der Dexamethason-Teil der Studie umfasste demnach insgesamt 2.104 Corona-Patienten, die für zehn Tage einmal täglich 6 Milligramm Dexamethason bekamen. 4.321 Patienten dienten als Kontrollgruppe.
Die Sterblichkeit nach 28 Tagen war unter den künstlich beatmeten Patienten am höchsten. Sie lag ohne Dexamethason-Behandlung bei 41 Prozent. In der Versuchsgruppe sank sie um ein Drittel. Bei den Patienten, die Sauerstoff bekamen, aber nicht künstlich beatmet wurden, sank sie um ein Fünftel. Bei den Patienten, die gar keinen Sauerstoff benötigten, zeigte die Behandlung keine Wirkung.
Basierend auf den Zahlen würde bei der Behandlung von acht schwerkranken Covid-19-Patienten durch Dexamethason ein Todesfall verhindert, heißt es in der Mitteilung. „Diese vorläufigen Ergebnisse der Recovery-Studie sind sehr eindeutig – Dexamethason reduziert das Sterberisiko bei Patienten mit schweren Atemkomplikationen“, erklärte Martin Landray, ein weiterer Studienleiter.
Nick Cammack, Covid-19-Forschungsbeauftragter bei der Wellcome-Stiftung, sprach in einem Statement von einem Durchbruch. Das Medikament müsse den Tausenden von schwer Erkrankten weltweit nun zugänglich gemacht werden. Die in London ansässige Wellcome-Stiftung setzt sich für die Verbesserung der weltweiten Gesundheit ein. Der oberste medizinische Berater der britischen Regierung, Chris Whitty, sprach vom bisher wichtigsten Ergebnis in Zusammenhang mit Covid-19.
weiterführende Informationen:
➡️ Mitteilung Recovery-Studie [PDF]
➡️ Statement der Wellcome-Stiftung
➡️ Mitteilung der WHO