Gesellschaft Topthemen

Studie: 2,8 Millionen Kinder in Deutschland von Armut betroffen

Mehr als jeder fünfte Heranwachsende ist in Deutschland von Armut betroffen. Foto: picture alliance / ZB
Mehr als jeder fünfte Heranwachsende ist in Deutschland von Armut betroffen. Foto: picture alliance / ZB

Millionen Kinder und Jugendliche wachsen in Deutschland in Armut auf – mehr als jeder fünfte Heranwachsende. Ein ungelöstes Problem. Eine Analyse warnt vor einer Verschärfung infolge der Corona-Krise.

Benachteiligt, beschämt, belastet: Kinder-Armut bleibt einer Analyse zufolge mit unverändert hohen Zahlen eine „unbearbeitete Großbaustelle“ – auch in Deutschland. Rund 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche wachsen in Armut auf – 21,3 Prozent aller unter 18-Jährigen, wie die Bertelsmann Stiftung am Mittwoch berichtete.

„Seit Jahren ist der Kampf gegen Kinder-Armut eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen in Deutschland“, so die Stiftung. Dennoch gebe es seit 2014 im bundesweiten Durchschnitt wenig Verbesserungen. Mehr als jeder fünfte Heranwachsende sei betroffen – mit regional starken Unterschieden. Die Corona-Krise drohe das Problem noch zu verschärfen. Die Bundesregierung wies den Vorwurf zurück, nicht genug gegen Kinderarmut zu tun.

„Das hat den Vorteil, dass wir auch verdeckte Armut mit aufzeigen können und uns niemand durchs Raster fällt“, sagt Projektmitarbeiterin Sarah Menne der Deutschen Presse-Agentur. Es werde die relative Einkommensarmut berücksichtigt – also Kinder aus Familien, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte beträgt. Und auch Heranwachsende im Grundsicherungsbezug sind einbezogen, deren Familien Hartz IV erhalten.

Kinder- und Jugendarmut habe erhebliche Folgen für Wohlbefinden, Aufwachsen, Bildung und Zukunftschancen, sagt Bildungsexpertin Anette Stein. Es treffe mehr als jeder fünften Heranwachsenden – mit starken regionalen Unterschieden.

Regionale Unterschiede

Um diese darzustellen, eignet sich laut Stiftung die kombinierte Armutsbetrachtung nicht, da schaue man alleine auf den Grundsicherungsbezug: Danach lebten 2019 bundesweit 13,8 Prozent der Kinder in Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften. In Westdeutschland stagniere die Quote – sie lag 2019 bei 13,1 Prozent (2014: 12,9 Prozent). Im Osten gab es seit 2014 (22,1 Prozent) einen Rückgang auf noch hohe 16,9 Prozent.

Nach Bundesländern werden in den Stadtstaaten Bremen (31,3 Prozent) und Berlin (27,0%) besonders viele Kinder und Jugendliche in finanziell schwachen Verhältnissen groß. In Bayern (6,3%) und Baden-Württemberg (8,1%) sieht es für sie im Vergleich am besten aus.

Auf kommunaler Ebene habe Gelsenkirchen die bundesweit höchste Zahl: Dort seien 41,5 Prozent der Kinder und Jugendlichen betroffen. In Bremerhaven (35,2) und Wilhelmshaven (33,8) werden ebenfalls besonders viele junge Menschen in armen Verhältnissen groß, gefolgt von den Ruhrgebietsstädten Herne, Duisburg, Mönchengladbach und Dortmund mit mehr als 30 Prozent. Hingegen sind in einigen Kommunen im Süden Deutschlands nur wenige durch Armut belastet.

Wie wirkt sich der Geldmangel aus?

Zwei Drittel der betroffenen Kinder können mit ihrer Familie nicht einmal eine Woche im Jahr in Urlaub fahren.

Bei der Hälfte steht dem Haushalt kein Auto zur Verfügung, bei vielen reicht das Geld nicht für einmal im Monat Kino, Konzert oder Essengehen. Sie können seltener Freunde nach Hause einladen oder an Klassenfahrten teilnehmen.

Vor allem bei Freizeitgestaltung und sozialer Teilhabe bestehe eine starke Unterversorgung, sagt Stein. „Armut ist das größte Risiko für die Entwicklung von Kindern, zumal sie oft lange anhält oder die gesamte Kindheit andauert.“

Warnung vor Verschärfung

Und Corona? Es sei mit einem deutlichen Armutsanstieg zu rechnen. „Hinweise sind Rückgänge bei Minijobs, Teilzeitjobs, irregulärer Beschäftigung, die gerade Eltern benachteiligter Kinder häufig ausüben, vielfach alleinerziehende Mütter“, erklärt Menne. Sie seien unter den Ersten, die ihre Arbeit verlieren, die wenig oder kein Kurzarbeitergeld erhalten.

Es komme jetzt auf die richtige Weichenstellung an. „Es gibt zwei Möglichkeiten: In der Corona-Krise bleibt die Bekämpfung der Kinderarmut auf Feuerlöscharbeiten beschränkt – ohne nachhaltige Verbesserunge“, sagt Menne. Oder Corona schärfe den Blick „und der politische Wille für strukturelle Änderungen nimmt endlich Fahrt auf.“

Das Homeschooling habe immerhin schon mal die schlechte Ausstattung armer Kinder verdeutlicht: Jeder vierte Heranwachsende aus armen Familien habe daheim keinen internetfähigen PC. Die Hälfte der Kinder lebe in einer Wohnung ohne genügend Zimmer.

Die Stiftung verlangt eine eigene Grundsicherung, die alle Leistungen für Kinder bündele. Die Höhe solle vom Elterneinkommen abhängig sein, damit das Geld die wirklich Bedürftigen erreiche, erläutert Anette Stein. Kinder gehörten nicht ins Hartz-IV-System.

Änderungen gefordert

„Kinderarmut in unserem reichen Land ist ein unfassbarer Skandal, weil sie Lebenschancen der Kleinsten verbaut“, kritisierte Linke-Bundestagsfraktionschef Dietmar Bartsch. Stiftungsvorstand Jörg Dräger fordert: „Die Vermeidung von Kinderarmut muss gerade in der Corona-Krise politische Priorität bekommen.“

Das derzeitige Nebeneinander verschiedener Leistungen für Kinder sei „undurchschaubar und ungerecht“, meint die Diakonie. Das Kinderhilfswerk plädiert zusätzlich für einen Sonderfonds für Bildungsprogramme. Auch die Bundestagsfraktionen von Linke, SPD und Grünen sind für eine Kindergrundsicherung. Der Sozialverband VdK betont: „Der Staat ist am Zug.“

Man gehe in Deutschland mit ganz vielen Maßnahmen gegen Kinder-Armut vor, heißt es aus dem Bundesfamilienministerium. So sei der Kinderzuschlag eine Leistung für Familien mit geringem Einkommen – der Zugang dazu sei erweitert worden, die Empfängerzahl deutlich gestiegen.

„Das sind Daten, die nicht in diese Bertelsmann-Erhebung eingeflossen sind“, moniert eine Sprecherin. Die Bundesregierung habe viel getan, um die Situation von Familien zu verbessern, sagt auch die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer.

Die Stiftung will eine Kampagne #StopptKinderarmut in den sozialen Medien starten. Familienexpertin Antje Funcke meint: „Wir müssen von der Jugend selbst hören, was es heißt, arm zu sein und was die Gesellschaft ihnen zur Verfügung stellen sollte.“ Bei Kindern sei Armut oft mit Scham- und Schuldgefühlen besetzt. „Wir müssen also auch ermutigen und Armut enttabuisieren.“

© dpa-infocom, dpa:200722-99-878308/7
© dpa-infocom, dpa:200722-99-878308/9

➡️ Factsheet zur Studie inkl. Informationen zur Methodik

[plista widgetname=plista_widget_belowArticle]

Hinterlasse einen Kommentar