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Was wir über Genesene wissen – und was nicht

Die politische Entscheidung, dass Genesene nur noch knapp drei Monate als geschützt gelten, sorgt vielfach für Unmut und Unverständnis. Foto: Marcus Brandt/dpa
Die politische Entscheidung, dass Genesene nur noch knapp drei Monate als geschützt gelten, sorgt vielfach für Unmut und Unverständnis. Foto: Marcus Brandt/dpa

Die Entscheidung, dass Genesene nur noch knapp drei Monate als geschützt gelten, sorgt vielfach für Unmut und Unverständnis. Ist das Vorgehen wissenschaftlich haltbar?

Frankfurt/Main (dpa) – Der Immunologe Carsten Watzl spricht von „Blindflug“: Zwei Jahre nach Beginn der Pandemie weiß niemand in Deutschland halbwegs genau, wie viele Menschen bis zum jetzigen Zeitpunkt von einer Corona-Infektion genesen sind.

Bis zu 20 Millionen könnten es durchaus sein, schätzt der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie. Die Entscheidung, die Dauer des Genesenen-Status bei den Corona-Schutzmaßnahmen auf drei Monate zu halbieren, findet Watzl „nicht nachvollziehbar“. Genesene sollten Geimpften gleichgestellt werden.

„Zahlreiche Studien“ hätten herausgefunden, dass Menschen, die von Covid-19 genesen sind, sich in den Monaten darauf selten erneut infizieren, erläutern Noah Kojima und Jeffrey Klausner in einem Beitrag im Fachmagazin „The Lancet Infectious Diseases“ vom November. Einer Studie vom September zufolge senkte eine Infektion mit dem Delta-Typ des Virus das Risiko, sich erneut zu infizieren, um mehr als 80 Prozent. Eine andere Studie zeigte, dass sich von mehr als 9000 zuvor Infizierten innerhalb eines Jahres nur 0,7 Prozent erneut ansteckten. Einschränkung dabei: Die Variante Omikron, die verstärkt von anderen Varianten Genesene infizieren kann, kursierte noch nicht.

Immunität ist mit Omikron variabel

„Wenn man eine Infektion durchgemacht hat, ist man immun“, sagt Watzl. „Aber die Immunität ist sehr variabel.“ Beim Einen sei sie sehr stark, beim Anderen eher schwach. „Im Mittel ist man etwas weniger geschützt als mit zwei Dosen Biontech.“ Aber, betont Watzl, es gebe auch Vorteile: „Bei Genesenen geht der Antikörperspiegel etwas langsamer zurück als bei Geimpften. Und die Antikörper sind breiter aufgestellt.“

Antikörper sind zudem nur ein Teil des Schutzes, den der Körper ausbildet. T-Zellen könnten möglicherweise sogar lebenslang aktiv sein. Patienten, die sich 2002/03 mit Sars-Cov-1 infiziert hatten, wiesen laut „The Lancet Infectious Diseases“ noch 17 Jahre später T-Zellen gegen diesen Virentyp auf. Die Autoren empfehlen der Politik explizit, Genesene mit Geimpften gleichzustellen – allerdings fiel dieses Urteil eben zu einer Zeit, als die Delta-Variante dominierte. Ist die Lage mit Omikron anders?

Situation nicht entscheidend verändert

Watzl glaubt nicht, dass sich die Situation für Genesene durch Omikron entscheidend verändert hat. „Studien zeigen zwar, dass viele Antikörper von Genesenen die Omikron-Variante nicht mehr so gut erkennen können und diese Personen damit kaum noch einen Schutz vor der Infektion haben“, sagt der Immunologe. „Aber diese Veränderung gilt ebenso für Geimpfte. Wenn man den Genesenen-Status verkürzt, muss man das eigentlich auch für die Impfzertifikate tun.“ Die Verkürzung auf drei Monate sei eine „politische Entscheidung, die auf Basis der Daten nicht nachvollziehbar ist“. Kritiker sagen: Bei der Entscheidung sei es vor allem darum gegangen, mehr Menschen zum Impfen zu bewegen, nicht um eine wissenschaftlich sinnvolle Lösung.

Die Gültigkeit des Genesenen-Nachweises wurde Mitte des Monats laut Robert Koch-Institut (RKI) gekürzt, „da die bisherige wissenschaftliche Evidenz darauf hindeutet, dass Ungeimpfte nach einer durchgemachten Infektion einen im Vergleich zur Delta-Variante herabgesetzten und zeitlich noch stärker begrenzten Schutz vor einer erneuten Infektion mit der Omikron-Variante haben“. Die Bundesregierung beruft sich auf die Festlegung des RKI. Regierungssprecher Steffen Hebestreit sagte am Mittwoch: „Das war jetzt keine politische Entscheidung, sondern es ist der wissenschaftliche Stand, den das RKI, das dafür zuständig ist, mitgeteilt und umgesetzt hat“.

Unterschiedliche Bestimmungen

Die EU-Staaten hatten sich dagegen am Dienstag darauf verständigt, dass sich Reisende ab 1. Februar innerhalb der Union ohne weitere Auflagen frei bewegen können sollen, wenn sie einen gültigen Impf-, Test- oder Genesenennachweis vorlegen. Beim Genesenennachweis wird hier eine Gültigkeit von 180 Tagen genannt, also sechs Monate. Deutschland und anderen Ländern steht es jedoch frei, für Aktivitäten innerhalb des Landes – etwa Restaurantbesuche – den Genesenenstatus kürzer gelten zu lassen.

Der Virologe Hendrik Streeck, Mitglied des Expertenrats der Bundesregierung, sagte der „Welt“, man müsse „wirklich aufpassen, dass die Entscheidungen auf fundiertem Wissen basieren und nicht willkürlich getroffen werden“. In einem Gastbeitrag für die „Zeit“ schrieb er kürzlich: „Vernachlässigt wird die wachsende Gruppe der Genesenen … Da der Schutz nach einer Infektion vergleichbar mit dem nach einer Impfung ist, sollte der Genesenenstatus aufgewertet, sollten Genesene Geimpften gleichgestellt werden.“

Das RKI schätzt die Zahl der Genesenen derzeit auf rund 7,5 Millionen (Stand Donnerstag), geht aber selbst von einer „Untererfassung“ aus. „Wir wissen nicht, wer in Deutschland genesen ist, wir wissen nicht, wer nur genesen ist und wer sich später noch hat impfen lassen“, sagt Watzl. Das sei aber wichtig, um die Größe der viel beklagten Impflücke realistisch einzuschätzen. Watzl spricht ohnehin lieber von „Immunitätslücke“. Die könnte durchaus kleiner sein als angenommen, schätzt Watzl, denn Genesene müssten ja zur Zahl der Geimpften dazugerechnet werden.

Als Plädoyer gegen eine Impfung will Watzl seine Aussagen explizit nicht verstanden wissen: Nach einer Infektion sei es sehr ratsam, sich dennoch impfen zu lassen. Eine solche „hybride Immunität“ sei „der beste Schutz, den die Wissenschaft aktuell kennt“.

© dpa-infocom, dpa:220127-99-868627/3


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