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Ratlosigkeit und Überforderung: Reit-Drama um Fünfkämpferin

Nach dem Reiten kann Schleu ihre Enttäuschung nicht verbergen. Foto: Marijan Murat/dpa
Nach dem Reiten kann Schleu ihre Enttäuschung nicht verbergen. Foto: Marijan Murat/dpa

Gold war für Fünfkämpferin Annika Schleu fast greifbar. Doch das Reiten in Tokio wird zum Drama. Die Berlinerin weint bittere Tränen. Zuschauer sind empört über ihren Umgang mit dem Pferd.

Chofu (dpa) – Die verstörenden Bilder um die Moderne Fünfkämpferin Annika Schleu im olympischen Reit-Parcours haben eine heftig geführte Debatte über die Sportart ausgelöst.

Dass die sichtlich überforderte Berlinerin am Ende ihres Gold-Traums verzweifelt mit der Gerte auf das verängstigte Pferd schlug, sorgte für massive Kritik und führte selbst bei Olympiasiegerin Lena Schöneborn zu Ratlosigkeit. „In dieser Situation waren wir bisher noch nicht, so drastisch ist uns noch nicht vor Augen geführt worden, dass es tatsächlich ein Fehler im Reglement ist“, sagte die frühere Weltmeisterin in der ARD.

Tränenüberströmt saß Schleu im Tokyo Stadium auf ihrem zugelosten Pferd Saint Boy, das mehrfach verweigert hatte. Dennoch war es der 31-Jährigen, die nach ihrer Führung alle Gold-Chancen einbüßte und am Ende 31. wurde, nicht möglich, das Pferd zu wechseln. „Wenn man das sieht, mag man denken, dass das immer so läuft. Die Erfolge, die wir sonst zwischendurch feiern, sprechen dagegen“, sagte Schleu zu ihrem Einsatz der Gerte. „Eigentlich sind wir Deutsche als gute und solide und auch einfühlsame Reiter bekannt.“ Für Kritik sorgte auch der Auftritt von Bundestrainerin Kim Raisner. „Hau mal richtig drauf! Hau drauf!“, rief sie – im Fernsehen deutlich hörbar – Schleu zu.

Kritik von Werth

Dressur-Olympiasiegerin Isabell Werth kritisierte den Einsatz von Pferden im Modernen Fünfkampf scharf. „Das hat mit Reitsport nichts zu tun, wie wir ihn betreiben und kennen“, sagte die erfolgreichste Reiterin der Welt. „Das ganze System muss geändert werden.“ Das Pferd tue ihr leid, betonte die siebenmalige Olympiasiegerin. Die Tiere seien im Fünfkampf „nur ein Transportmittel“. Ihr tue aber auch „das Mädchen leid“, die Opfer des Systems ihrer Sportart sei, betonte Werth.

Die Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) und der Deutsche Olympische Sportbund sehen das Problem vor allem beim Weltverband. „Als Fachverband für den Pferdesport sehen wir die Reiterei im Modernen Fünfkampf kritisch“, sagte FN-Sportchef Dennis Peiler. „Unser Verständnis der Reiterei liegt in der Partnerschaft zwischen Mensch und Pferd und nicht darin, das Pferd als Sportgerät zu betrachten.“ Das Reglement müsse so gestaltet sein, dass Reiter und Pferd geschützt würden.

Dieser Einschätzung schloss sich auch der DOSB an. „Zahlreiche erkennbare Überforderungen von Pferd-Reiter-Kombinationen sollten für den internationalen Verband dringend Anlass dafür sein, das Regelwerk zu ändern“, hieß es in einer Stellungnahme. Es müsse so umgestaltet werden, „dass es Pferd und Reiter schützt. Das Wohl der Tiere und faire Wettkampfbedingungen für die Athletinnen und Athleten müssen im Mittelpunkt stehen.“

Hassnachrichten

Im Internet gab es deutlichere Worte. „Moderne Tierquälerei“ oder „Kein Respekt vor dem Tier“ war wenige Minuten nach den ungewöhnlichen Szenen bei Twitter zu lesen. Sie habe schon „diverse Hassnachrichten erhalten“, berichtete Schleu kurz nach dem Wettkampf. Sätze wie „Holt das Mädchen vom Pferd runter“ und sich übergebende Smileys gehörten noch zu den gemäßigten Botschaften. Die Tierrechtsorganisation Peta forderte die Suspendierung von Schleu und Raisner und sprach von „Misshandlungen“.

Anders als im Springreiten müssen die Sportlerinnen und Sportler im Fünfkampf mit einem zugelosten und vorher unbekannten Pferd in den Parcours. Der Veranstalter stellt die Tiere zur Verfügung. Sie haben dann im Wettkampf mehrere Reiterinnen und Reiter in kurzer Zeit nacheinander im Sattel. Vor dem Ritt haben die Sportlerinnen und Sportler nach einer Auslosung nur 20 Minuten Zeit, um sich mit dem Pferd vertraut zu machen. Dies gelang Schleu mit Saint Boy gar nicht.

Dabei hatten sich die Probleme mit dem Pferd schon angedeutet. Saint Boy wollte wenige Minuten zuvor bei Gulnas Gubaidullina vom Team des Russischen Olympischen Komitees bereits nicht über die Hindernisse. Ein Tierarzt erklärte das Pferd dennoch für einsatzbereit, Schleu musste losreiten.

Schlechtestes Resultat

„Auf dem Abreiteplatz hat es funktioniert“, berichtete die Olympia-Vierte von Rio. Keinen Fehler habe es gegeben. Doch im Parcours wollte das Pferd nicht mehr, und Schleu musste das schlechtestmögliche Resultat hinnehmen. Raisner sagte dazu: „Es ist nicht ihre Schuld. Das Pferd wollte immer nur zur Tür.“ Sie sei schon sehr verzweifelt gewesen, „ich habe gar nicht mehr damit gerechnet, dass wir in den Parcours starten“, sagte Schleu. „Ich werde wahrscheinlich noch eine Weile brauchen, um drüber hinwegzukommen.“

Besonders bitter für die deutschen Fünfkämpferinnen: schon vor fünf Jahren beendete ein komplett misslungener Ritt die Träume vom zweiten Olympia-Gold für Schöneborn. „Ich kann es kaum glauben, dass uns das zwei Olympische Spiele hintereinander passiert“, sagte Bundestrainerin Raisner in der ARD und fing selbst an zu weinen.

„Es ist der worst, worst case, der jetzt eingetreten ist. Mit allen anderen Punktzahlen hätte man Annika keine Medaille mehr nehmen können“, sagte Schöneborn, die auf der Tribüne saß und die bitteren Momente ihrer langjährigen Trainingspartnerin miterlebte.

Keine Medaille

13 Jahre nach dem historischen Olympiasieg von Schöneborn in Peking standen die Fünfkämpferinnen ohne Medaille da. Gold ging an die Britin Kate French vor Laura Asadauskaitė aus Litauen und Sarolta Kovacs aus Ungarn. Die zweite deutsche Starterin Rebecca Langrehr kam auf Rang 28 ins Ziel, auch die zweite Berlinerin hatte Probleme mit dem Pferd. Im abschließenden Laser Run – ein kombinierter Wettkampf aus Schießen und Laufen – kamen die Deutschen nicht mehr nach vorne.

Für Schleu war das besonders bitter. Im Frühjahr war das Ziel Olympia noch fern. Sie hatte sich mit dem Coronavirus infiziert und musste mehrere Wochen pausieren. Als harte und deprimierende Zeit beschrieb die Berlinerin die damalige Phase. Schleu kämpfte sich zurück an die Spitze – mit einer Medaille wurde sie nach dem undankbaren vierten Rang in Rio de Janeiro aber auch in Tokio nicht belohnt. Stattdessen lieferte sie die Negativ-Bilder der Spiele.

© dpa-infocom, dpa:210806-99-738214/16

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