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Druck auf EU-Grenzschutztruppe Frontex und Fabrice Leggeri wächst

Ein Beamter der deutschen Bundespolizei im Frontex-Einsatz auf der griechischen Insel Samos. Foto: Christian Charisius/dpa
Ein Beamter der deutschen Bundespolizei im Frontex-Einsatz auf der griechischen Insel Samos. Foto: Christian Charisius/dpa

Einig sind sich die 27 Staaten vor allem in einem: mehr Grenzschutz. In der zuständigen EU-Behörde scheint jedoch das Chaos zu regieren. Etliche Stellen ermitteln gegen Frontex. Und jetzt kommt auch noch Jan Böhmermann.

Erhabene Streicher, treibendes Schlagzeug und ein Mann, der eifrig salutiert – mit reichlich Pathos präsentiert die EU-Grenzschutzagentur Frontex ihre neue Uniform: Dabei ist der Auftritt der EU-Behörde mit Sitz in Warschau zuletzt gar nicht erhaben, auch Chef Fabrice Leggerie steht unter Druck.

Einem Problem folgt das nächste. Von Grundrechtsverstößen ist die Rede, von Mobbing und von massiven Pannen beim Personalaufbau. Die EU-Betrugsbehörde Olaf ermittelt, nicht wenige fordern den Rücktritt von Behördenchef Fabrice Leggeri, der Druck auf Frontex-Chef steigt.

Der Geschäftsführer von Pro Asyl, Günter Burkhardt, forderte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) am Samstag auf, bis zur lückenlosen Aufklärung der Vorwürfe alle deutschen Beamten aus der EU-Grenztruppe zurückzuziehen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) verlangte eine bessere Überwachung möglicher Grundrechtsverletzungen bei Frontex.

EU-Innenkommissarin Ylva Johansson macht Druck. Und nun hat auch noch Satiriker Jan Böhmermann die Agentur in den Fokus genommen. Wie konnte es so weit kommen?

Frontex soll EU-Außengrenze schützen

Eigentlich ist Frontex so etwas wie das Lieblingskind der EU-Staaten. Wo Ungarn und Luxemburg, Italien und Österreich seit Jahren über eine Reform der Migrations- und Asylpolitik streiten, sind sich zumindest in einem alle einig: Die Außengrenzen müssen mehr geschützt werden.

Eine Schlüsselrolle kommt dabei Frontex zu. Bis 2027 soll die Behörde von ehemals rund 1500 Beamten auf eine ständige Reserve mit bis zu 10.000 Beamten ausgebaut werden. Auch neue Kompetenzen sind hinzugekommen – etwa bei Abschiebungen und der Zusammenarbeit mit Drittstaaten.

Innenminister Horst Seehofer (CSU) betont immer wieder, wie wichtig Frontex sei. Europa, eine Festung – diese Erzählung verfestigte sich zuletzt immer mehr.

Frontex hat an den europäischen Außengrenzen allerdings auch unter dem neuen Mandat von 2019 nicht das Sagen, sondern soll die nationalen Behörden bei ihrer Arbeit unterstützen – mit Personal, mit Wissen, mit Technik, mit Equipment. Doch die Rolle, die Frontex dabei übernimmt, gerät immer mehr in die Kritik.

Im August 2019 berichteten mehrere Medien, dass die Behörde Menschenrechtsverletzungen durch nationale Beamte an den EU-Außengrenzen in Bulgarien, Griechenland oder Ungarn hingenommen habe. Im Oktober 2020 folgten ähnliche Berichte des Spiegel und anderer Medien übe rechtswidrige Pushbacks.

UNHCR „beunruhigt und alarmiert“

Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR fordert deshalb eine bessere Überwachung möglicher Grundrechtsverletzungen.

„UNHCR ist beunruhigt und alarmiert über die Zunahme von Berichten über Zurückweisungen und ‚Pushbacks‘ von Flüchtlingen und Asylsuchenden an Europas Land- und Seegrenzen“, sagte die Vertreterin von UNHCR in Deutschland, Katharina Lumpp, der dpa.

Medienberichten zufolge haben griechische Grenzschützer mehrfach Boote mit Migranten zurück in Richtung Türkei getrieben. Flüchtlingsorganisationen kritisieren, dass Teilnehmer-Schiffe der Frontex-Mission teils in der Nähe waren oder von solchen Aktionen wussten. Frontex-Chef Fabrice Leggeri hatte diese Vorwürfe bereits Anfang Dezember im Innenausschuss des EU-Parlaments zurückgewiesen.

Als Mitglied eines unabhängigen Konsultationsforums, das Frontex zu Grundrechten und Flüchtlingsschutz berät, habe das UNHCR „wiederholt auf Mängel im Frontex-Meldeverfahren für solche schwerwiegenden Vorfälle hingewiesen und Frontex aufgefordert, ein zuverlässiges Melde- und Überwachungssystem für Grundrechtsverletzungen einzurichten“, so Lumpp.

„Vorfälle von Zurückschiebungen und Gewalt gegenüber Schutzsuchenden wären nicht nur inakzeptabel, sondern auch rechtswidrig“, betont Lumpp weiter. UNHCR begrüße den Vorschlag der EU-Kommission, hier unabhängige nationale Überwachungsmechanismen einzuführen.

Vorwürfe von Pro Asyl

Die Organisation Pro Asyl warf Frontex vor, fundamentale Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns systematisch missachtet zu haben. „Die Agentur ist eine Persiflage einer rechtsstaatlichen Polizei“, sagte Geschäftsführer Burkhardt. Angesichts der Kritik an Frontex-Chef Leggeri meinte er, der Austausch einer Person an der Spitze wäre nur ein „Alibihandeln“, er betont: „Wir fordern einen Totalabriss.“

„Auch das Versagen der EU-Kommission und der Innenministerien der EU-Länder muss aufgeklärt werden“, verlangte Burkhardt. Sie würden seit Jahren illegale Praktiken kennen, ohne zu handeln.

An die Adresse Seehofers gewandt fügte er hinzu, der Innenminister habe angesichts der gegen Frontex erhobenen gravierenden Vorwürfe eine „Fürsorgepflicht“ gegenüber den in der Frontex-Mission eingesetzten deutschen Polizeibeamten.

Seehofer müsse, so fordert Burkhardt, dafür sorgen, „dass sie nicht in kriminelle Machenschaften einer EU-Agentur involviert werden“. Zudem plädierte er für einen Untersuchungsausschuss des Europaparlaments, um mögliche Aufsichtsversäumnisse der EU-Kommission aufzuklären.

Auch die Grünen-Fraktionschefin im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, forderte eine bessere parlamentarische Kontrolle von Frontex. Die Agentur müsse „neu aufgestellt werden“, sagt sie den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Die EU-Staaten hätten Frontex in den vergangenen Jahren mit „immer mehr Mitteln und Kompetenzen aufgeblasen, aber auf eine Kontrolle dieser wildwüchsigen Grenzagentur verzichtet“.

Fabrice Leggeri im Fokus

Zum Missfallen vieler ist das Frontex-Krisenmanagement bisher alles andere als transparent. Leggeri agiert nach dem Motto: Bitte gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen. Im Europaparlament wies er die Pusback-Vorwürfe entschieden zurück – man habe keine Beweise dafür gefunden. Etliche Abgeordnete fordern seinen Rücktritt.

Auch im Interview mit dem französischen Radiosender Europe 1 lässt der unter Druck stehende Frontext-Chef Fabrice Leggerie am Freitag Fragen offen. Immer wieder spricht er von einer „Metamorphose“, die seine Agentur gerade aufgrund des immensen Ausbaus durchmache.

Mit Blick auf die Pushback-Vorwürfe etwa in der Ägäis betont er, dass Frontex auch Menschenschmuggel bekämpfe. Es müsse sichergestellt sein, dass die Menschen auf Booten nicht Opfer von Schmugglern seien. Die Boote würden teils umgeleitet um sie kontrollieren zu können. Wer einen Asylantrag stellen wolle, könne das natürlich tun. Doch könne er, Leggeri, versichern, dass Frontex stets legal gehandelt habe? „Das ist ganz und gar unser Anliegen.“

Selbst der Frontex-Verwaltungsrat aus Vertretern der Mitgliedsstaaten und der EU-Kommission hält die Aufarbeitung für unzureichend. Eine interne Arbeitsgruppe sollte die Pushback-Vorwürfe aufklären.

Doch der vertrauliche Bericht, der der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, lässt schwere Mängel erkennen: Fünf von 13 untersuchten Fällen wurden nicht ausgeräumt und bedürfen weiterer Untersuchung. Zum Teil seien die von Frontex bereitgestellten Informationen unzureichend. Für einen kompletten Bericht hat der Verwaltungsrat eine neue Frist Ende Februar gesetzt. Auch sollen interne Prozesse überarbeitet werden.

Europaparlament richtet Untersuchungsgruppe ein

Das Europaparlament will sich all das nicht mehr bieten lassen. Kürzlich entschied der Innenausschuss, eine neue Arbeitsgruppe einzurichten, die vor allem mögliche Grundrechtsverletzungen unter die Lupe nehmen soll.

Lucas Rasche, Wissenschaftler an der Berliner Denkfabrik Jacques Delors Centre, beschäftigt sich seit Jahren mit der EU-Migrations- und Asylpolitik. Er sieht für das Frontex-Dilemma vor allem zwei Gründe:

Seit 2016 sei die Behörde zu einer Art Super-Agentur mit mehr Budget, mehr Personal und mehr Kompetenzen aufgestockt worden. Dabei habe man jedoch verpasst, auch Kontroll- und Transparenzmechanismen auszubauen. „Das wird umso klarer, je mehr Verantwortung die Agentur übernimmt“, sagt Rasche. Zugleich spiele sich das alles in einem bestimmten politischen Klima ab.

Rasche erinnert etwa an den März 2020 als die Türkei die Grenzen zur EU für Geflüchtete für offen erklärte und griechische Beamte die Migranten teils gewalttätig abwehrten. Das Grundrecht, einen Asylantrag stellen zu dürfen, setzte Athen zeitweise aus – und EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen bezeichnete Griechenland als „europäisches Schild“.

„Die Verwicklungen von Frontex in Pushbacks sind dann eine Fortsetzung dieser Politik“, sagt Rasche. Die EU versuche mit verstärktem Grenzschutz zu kaschieren, dass sie sich seit Jahren nicht auf ein funktionierendes Asylsystem einigen könne.

Olaf ermittelt

Doch der Druck ist nicht nur wegen der Pushback-Berichte hoch. Im Januar wurde bekannt, dass die EU-Behörde Olaf gegen Frontex ermittelt. Zu den Hintergründen schweigen sich zwar beide Seiten aus. Das Magazin Politico verwies aber unter Berufung auf EU-Beamte auf „Vorwürfe von Belästigung, Fehlverhalten und Migranten-Pushbacks“.

Der Spiegel berichtete am Freitag, neben den Pushback-Vorwürfen gehe es unter anderem auch um einen möglichen Betrugsfall, um Mobbingvorwürfe „und die Frage, ob der Grundrechtsbeauftragten der Agentur Informationen vorenthalten wurden“. Frontex bestreitet die Vorwürfe.

Im Dezember schaltete sich wegen der Beschwerden über mögliche Grundrechtsverletzungen auch noch die europäische Bürgerbeauftragte ein; auch der Europäische Rechnungshof untersucht, ob Frontex die Grenzverwaltung der EU wirksam unterstützt.

Böhmermann greift Thema auf.

Jan Böhmermann befasst sich in der aktuellen Ausgabe seines ZDF Magazin Royale ebenso mit Frontex. Für ihn ist die Agentur „unsere ein bisschen außerhalb von Recht und Gesetz stehende europäische Grenzmiliz“.

ZDF Magazin Royale vom 5. Februar 2021

➡️ Die Frontex Files von ZDF Magazin Royale und anderen

Frontext unter Druck

Ermittlungen und Vorwürfe von allen Seiten. Um sich nicht noch angreifbarer zu machen, setzte die Agentur zuletzt ihren Einsatz in Ungarn aus. Der Europäische Gerichtshof hatte zuvor weite Teile des ungarischen Asylsystems für rechtswidrig erklärt.

Doch auch bei der Personalaufstockung hakt es. EU-Innenkommissarin Johansson macht ihrem Unmut mittlerweile ziemlich deutlich Luft: „Wir können sehen, dass noch viele Dinge fehlen, die eigentlich vorhanden sein sollten“, sagte die Schwedin kürzlich.

Sie zählte auf, dass unter anderem drei Vertreter Leggeris und 40 Grundrechte-Überwacher fehlten. Dass das so nicht geht, machte sie dem Frontex-Chef zuletzt am Donnerstag bei einem persönlichen Treffen in Brüssel klar.

Ein Frontex-Sprecher verweist mit Blick auf die Personalfrage hingegen darauf, dass Corona das ohnehin herausfordernde Vorhaben – den Ausbau der Agentur – noch komplizierter gemacht habe. Alles in allem sei das Projekt aber in der Spur. Bis 2027 soll die Behörde von ehemals rund 1.500 Beamten auf eine ständige Reserve mit bis zu 10.000 Beamten ausgebaut werden.

Der Druck nimmt zu, Fabrice Leggeri ist noch im Amt als Frontex-Chef. Ändern könnte das nur der Verwaltungsrat auf Vorschlag der EU-Kommission. Johansson sagte der dpa noch am Freitag, die jüngsten Medienberichte seien besorgniserregend. Leggeri und der Verwaltungsrat hätten eine große Verantwortung, die Situation zu verbessern. „Die Erwartungen sind hoch.“

© dpa-infocom, dpa:210206-99-325287/2
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