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Afghanistan: Präsident flieht vor Taliban, Westen evakuiert

Ein Hubschrauber der USA vom Typ Chinook fliegt über der US-Botschaft in Kabul. Foto: Rahmat Gul/AP/dpa
Ein Hubschrauber der USA vom Typ Chinook fliegt über der US-Botschaft in Kabul. Foto: Rahmat Gul/AP/dpa

Kabul war die letzte Großstadt in Afghanistan in den Händen der Regierung. Doch nun ist der Präsident geflohen. Mit Sorge erwartet die Bevölkerung die Machtübernahme durch die Taliban.

In einem rasanten Feldzug haben die Taliban innerhalb einer guten Woche ganz Afghanistan quasi komplett erobert: Präsident Aschraf Ghani floh am Sonntag aus der Hauptstadt Kabul und aus dem Land.

Die islamistischen Aufständischen erteilten eigener Aussage zu Folge ihren Kämpfern die Anweisung, in der Hauptstadt Kabul für „Sicherheit“ zu sorgen. Deutschland und andere Staaten versuchten, ihr verbliebenes Personal möglichst schnell auszufliegen.

Die Bundesregierung veröffentlichte eine Reisewarnung machte am Sonntag ihre Botschaft in Kabul dicht und verlegte die Mitarbeiter zum militärischen Teil des dortigen Flughafens. Auch die USA begannen mit der Räumung ihrer Botschaft in Afghanistan.

Präsident Ghani flieht

Aschraf Ghani, Präsident von Afghanistan, während seiner Amtseinführungszeremonie im Präsidentenpalast. Foto: Rahmat Gul/AP/dpa
Aschraf Ghani, Präsident von Afghanistan, während seiner Amtseinführungszeremonie im Präsidentenpalast. Foto: Rahmat Gul/AP/dpa

Der Vorsitzende des Nationalen Rats für Versöhnung, Abdullah Abdullah, sagte in einer Videobotschaft, „Ex-Präsident“ Aschraf Ghani habe in dieser Situation das Land verlassen, Gott möge ihn zur Rechenschaft ziehen. Auch das Volk werde über ihn richten.

Angaben dazu, wohin Aschraf Ghani abreiste, machte Abdullah nicht. Lokale Medien berichteten, er sei nach Tadschikistan geflogen. Abdullah bat die Taliban, noch nicht nach Kabul vorzudringen, sondern noch auf Gespräche zu warten. Damit meinte er vielleicht Friedensgespräche.

Provinzhauptstädte fallen an Taliban

Die Taliban hatten in den vergangenen knapp eineinhalb Wochen fast alle Provinzhauptstädte eingenommen. Viele waren kampflos an sie gefallen. Am Samstagabend (Ortszeit) hatten sie Masar-i-Scharif im Norden und am Sonntagmorgen Dschalalabad im Osten eingenommen.

In Masar-i-Scharif war bis vor wenigen Wochen ein großes Feldlager der Bundeswehr gewesen, erst Ende Juni sind die deutschen Soldaten von dort abgezogen. Die Bundeswehr hatte zuletzt afghanische Sicherheitskräfte im Zuge des Nato-Einsatzes „Resolute Support“ ausgebildet.

Dschalalabad war die vorletzte noch unter Kontrolle der Regierung stehende Großstadt. Wenig später sammelten sich Taliban-Kämpfer an den Toren der Hauptstadt Kabul. Sie wurden allerdings zunächst dazu angewiesen, nicht in die Stadt vorzudringen.

Taliban vor Kabul

Der amtierende Innenminister Abdul Sattar Mirsakwal sagte noch am Vormittag, es gebe eine Vereinbarung mit den Taliban für einen friedlichen Machtwechsel. Verteidigungsminister Bismillah Chan Mohammadi erklärte in einer Videoansprache, als Vertreter der Streitkräfte garantiere er die Sicherheit Kabuls. Die Menschen sollten nicht in Panik verfallen.

Auch die Taliban versuchten, die Furcht vor einer Schlacht um Kabul zu zerstreuen. Suhail Schahin, ein Unterhändler bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, erklärte der BBC: „Wir versichern den Menschen (…) in der Stadt Kabul, dass ihr Hab und Gut und ihre Leben sicher sind.“

Es werde „keine Rache an irgendjemandem“ geben. Die Taliban-Kämpfer hätten den Befehl, Kabul nicht zu betreten. „Wir warten auf eine friedliche Übergabe der Macht.“ Da die Hauptstadt Kabul eine große und dicht besiedelte Stadt sei, beabsichtigten die Taliban nicht, sie mit Gewalt zu betreten.

Am Abend teilten die Taliban in einer weiteren Erklärung mit, sie hätten Berichte erhalten, dass Polizeistationen und Ministerien verlassen worden seien. Die Sicherheitskräfte seien geflohen. Um Plünderungen zu verhindern oder damit anderen Menschen kein Schaden zugefügt werde, habe die Taliban-Führung ihre Kämpfer angewiesen, jene Gebiete zu betreten, aus denen der Feind geflohen sei.

Evakuierung gestartet

Angesichts des Taliban-Vormarschs will die Bundeswehr deutsche Staatsbürger und afghanische Ortskräfte möglichst schnell aus Kabul evakuieren.

Fallschirmjäger der Bundeswehr sollen an diesem Montag in Militärtransportern nach Kabul fliegen. Am selben Tag soll nach Angaben aus Sicherheitskreisen ein Krisenunterstützungsteam (KuT) aus Experten verschiedener Ministerien eintreffen. In der usbekischen Hauptstadt Taschkent soll ein zweites KuT eine Drehscheibe („Hub“) für die Rettung von Menschen organisieren.

Es geht um den bislang wohl größten Evakuierungseinsatz der Bundeswehr. Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) schrieb auf Twitter, es gehe um „Sofortmaßnahmen zur Sicherung und zur Ausreise deutscher Bediensteter und weiterer gefährdeter Personen aus Afghanistan“.

Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) sagte am Nachmittag bei der Aufzeichnung des Sommerinterviews für die ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“, die Evakuierung laufe an. Es gehe jetzt um Tempo. Alle Dinge seien „auf den Weg gebracht“.

Nato am Flughafen

Auch die USA begannen, ihre Botschaft zu räumen und ihr Personal an einen Standort am Flughafen zu verlegen, wie Außenminister Antony Blinken bestätigte. Man wolle sicherstellen, dass das Personal ungefährdet arbeiten könne und weitere Menschen ausgeflogen werden könnten, sagte Blinken dem US-Sender ABC.

Russland will seine Botschaft hingegen vorerst nicht räumen, wie der Afghanistan-Beauftragte des Außenministeriums, Samir Kabulow, der Agentur Interfax sagte.

Aus der Nato hieß es am Sonntag auf Anfrage: „Wir helfen, den Betrieb des Flughafens Kabul aufrechtzuerhalten, damit Afghanistan mit der Welt verbunden bleibt. Wir halten auch unsere diplomatische Präsenz in Kabul aufrecht.“

In Kabul spielten sich am Sonntag chaotische Szenen ab. Es kam zu einer Schießerei vor einer Bank, wie ein Bewohner der Stadt sagte. Viele Menschen versuchten, ihr Erspartes abzuheben und Lebensmittel zu kaufen. Ein Soldat aus Kabul sagte, seine gesamte Einheit habe die Uniformen abgelegt.

Papst Franziskus rief am Sonntag zu einer friedlichen Lösung des Konflikts auf. „Ich schließe mich der allgemeinen Sorge um die Lage in Afghanistan an. Ich bitte euch, mit mir zum Gott des Friedens zu beten, damit das Getöse der Waffen endet und Lösungen am Verhandlungstisch gefunden werden können“, sagte das Oberhaupt der katholischen Kirche nach dem Angelusgebet in Rom.

© dpa-infocom, dpa:210815-99-846296/13

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