Bremerhaven/Münster (dpa) – Manchmal muss man erst über Probleme sprechen, damit klar wird, dass etwas nicht stimmt. Simone K., 45 Jahre alte Mutter von drei Kindern aus Münster, ist zunächst guter Dinge. Sie meint, sie bewältige den Alltag trotz Corona-Pandemie und Lockdown noch ganz gut, auch das Abschalten bereite ihr keine besonders großen Schwierigkeiten.
Aber schon während sie über ihren Alltag in der Pandemie spricht, erkennt sie: „Man ist unter Dauerstrom.“ Das macht nachdenklich, auch skeptisch. Dann bricht es aus ihr hervor: „Wenn ich nicht an alles denke, funktioniert es nicht. Ich kann nicht mehr.“
Die Folgen von Dauerbelastung und Enge
Was läuft da schief? Nach über einem Jahr in der Pandemie, vielen neuen Verordnungen und Einschränkungen wirkt die Zeit vor Corona fast wie eine ferne Erinnerung an bessere Zeiten. Die 45-Jährige erzählt: „Wenn ich Feierabend mache, lasse ich freitags alles fallen“ – jedenfalls vor der Pandemie. Und jetzt: Erst muss sie schauen, ob die Kinder die Aufgaben für die Schule eingescannt und pünktlich abgegeben haben. Dann muss sie Mails prüfen, ach ja, es steht ein Präsenztag in der Schule an, eine Videokonferenz ist da noch, oh weh, die ist schon vorbei. Verpasst. „Was mich wirklich stresst: Mir geht immer wieder was durch“, sagt sie. Oder: „Ich esse zu viel, ich bin eine Stress-Esserin.“ Und dann ist da noch die zu kleine Wohnung.
„Enge hat das Potenzial, das Stressniveau zu erhöhen“, sagt Dirk Heimann, Oberarzt des Behandlungszentrums für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Klinikum Bremerhaven. Dazu ein „latentes Dauerbedrohungsgefühl“ angesichts der in Wellen verlaufenden Corona-Pandemie, während Bewältigungsmöglichkeiten an Grenzen stoßen, erklärt er: „Wir können davon ausgehen, dass viele das so erleben.“
Selbstheilungskräfte sind verbraucht
Und tatsächlich: „Die Selbstheilungskräfte scheinen bei vielen allmählich erschöpft zu sein“, sagt der Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, Dietrich Munz. Werde Behandlungsbedarf festgestellt, warteten rund 40 Prozent der Patientinnen und Patienten mindestens drei bis neun Monate auf den Beginn einer Behandlung. Und die Nachfrage nach Psychotherapie nahm in der Pandemie stark zu, wie eine Umfrage der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung ergab. Die Patientenanfragen stiegen demnach im Vergleich zum Vorjahr um durchschnittlich 40 Prozent. Nur jede vierte Patientin, jeder vierte Patient, erhalte einen Termin für ein erstes Gespräch.
Wie kommt das? „Was wir gemacht haben, war nur zum Teil erfolgreich“, meint Heimann mit Blick auf Lockdown, Homeoffice und Einschränkungen. Und Masken böten auch nur eine relative Sicherheit. Stoßen Menschen an Grenzen, sei eine mögliche Folge der depressive Rückzug – Heimann spricht vom „Verstärkerverlust“, wenn positive Rückmeldungen anderer Menschen ausblieben, weil man beispielsweise nicht mehr zu seinem Verein gehen kann. Dann kann sich der eigene Antrieb reduzieren, der Wunsch, den eigenen Interessen nachzugehen, wird schwächer. Weitere Symptome einer solchen depressiven Episode könnten sein: Die Menschen schlafen schlechter, können sich schlechter konzentrieren – und machen sich noch mehr Sorgen.
Risiko zu erkranken hängt oft vom Einkommen ab
Doch so muss es nicht kommen. „Die Resilienz ist höher als man denkt“, sagt Prof. Tillmann Krüger von der Medizinischen Hochschule Hannover. Resilienz beschreibt die Fähigkeit, mit Krisensituationen umzugehen. In Deutschland ist laut Krüger die Lage noch verhältnismäßig gut – und die Resilienz der Bevölkerung auch. Aber es gebe „vulnerable Gruppen“ – Kinder und Jugendliche, außerdem Menschen mit schlechterem Einkommen und schlechterer Bildung. Gerade Kinder seien die „Verlierer“ der Pandemie, urteilt er. Simone K. sorgt sich vor allem um ihre 19-jährige Tochter, ihr werde „die ganze Jugend genommen“. Heimann meint: Sind die sozialen Umstände schlechter, steigt das Risiko, zu erkranken – „das zeigen entsprechende Studien und gilt für körperliche wie auch für psychische Erkrankungen“.
Das passt zu einer anderen Erkenntnis: In der ersten Jahreshälfte 2020 habe man beobachtet, dass Stresserfahrungen sich parallel zu der Zahl der Arbeitslosen entwickelt hätten – aber nicht mit der Zahl der Neuinfektionen korrelierte, sagt Prof. Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité. Das bedeute, neben sozialer Isolation wirke sich besonders die Sorge um den Arbeitsplatz aus. Auch er beobachtet: Ängste und Depressionen nehmen bei sozialer Isolation im Schnitt zu.
Nur noch wenige wünschen einen Vollzeitjob
Eigentlich erstaunlich daher, dass nach einer Studie der Unternehmensberatung EY gut 80 Prozent von 1000 befragten Arbeitnehmern zwischen 20 und 50 Jahren auch künftig die komplette oder zumindest einen Teil der Arbeitszeit im Homeoffice verbringen wollen. Aber dafür verlangen sie einiges: Nur noch 20 Prozent wollen in einem Vollzeitjob arbeiten, ein Drittel will eine viel flexiblere tägliche Arbeitszeit. Pendeln wollen 28 Prozent nicht mehr – und ein Viertel der Befragten will am liebsten am bevorzugten Urlaubsziel arbeiten. Realistisch oder doch eher Vereinsamung im Homeoffice?
Ein Problem: Ein depressiver Rückzug könne über die eigentliche Ursache, die Pandemie, hinaus andauern, erklärt Heimann. Die Erfahrung, eine existenzielle Bedrohung erlebt zu haben, bedürfe der Einordnung. Denn: „Was ist, wenn das wieder losgeht?“
Doch ist ein Ende der Pandemie überhaupt absehbar? „Man hofft immer auf ein Ende des Ganzen, aber es wird immer weiter nach hinten verschoben“, sagt Simone K. aus Münster. Dennoch müsse sie den Kindern mit gutem Beispiel vorangehen und dafür sorgen, dass die Laune gut bleibt. Doch Menschen gewöhnten sich über Monate an den Rückzug, depressive Reaktionen bewirkten Veränderungen im Gehirn, warnt Dirk Heimann. Simone K. sagt: „Man denkt öfters, dass man nicht so richtig glücklich ist.“
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