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Jahrestag: Hanau gedenkt der Opfer des rassistischen Anschlags

Unter der Frankfurter Friedensbrücke erinnert ein riesiges Wandbild an die neun Opfer des Anschlags in Hanau. Foto: Andreas Arnold/dpa
Unter der Frankfurter Friedensbrücke erinnert ein riesiges Wandbild an die neun Opfer des Anschlags in Hanau. Foto: Andreas Arnold/dpa

Auch ein Jahr nach dem rassistisch motivierten Anschlag in Hanau sind zahlreiche Fragen ungeklärt. Doch ob und welche Antworten die Politik darauf finden wird, ist offen.

Am Jahrestag des rassistisch motivierten Anschlags in Hanau haben Angehörige am Freitag auf dem Hauptfriedhof der Stadt der neun Todesopfer gedacht. Ein 43-jähriger Deutscher hatte sie am späten Abend des 19. Februar vergangenen Jahres an mehreren Orten der Stadt aus rassistischen Motiven erschossen.

Rund 500 Angehörige und Hanauer Bürger kamen an einem Ensemble von Ehrengräbern zusammen. Dort sind Ferhat Unvar, Hamza Kurtović und Said Nesar Hashemi begraben. Das Ensemble umfasst auch Gedenksteine für die weiteren sechs Todesopfer Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun und Fatih Saraçoğlu.

Vielfach hatten die Angehörigen in den vergangenen zwölf Monaten Konsequenzen aus der Tat gefordert – allen voran ein entschiedeneres Eintreten gegen Rechts. Den Behörden warfen sie vor, „Warnsignale“ nicht ernst genug genommen zu haben, zuletzt etwa Ajla Kurtović, deren Bruder Hamza unter den neun Todesopfern des Anschlags war.

Neben Pamphleten mit Verschwörungstheorien und rassistischen Ansichten, die der 43 Jahre alte Täter vor der Tat im Internet veröffentlicht hatte, gehört dazu auch ein von ihm verfasster, sehr wirrer Brief, der Monate zuvor beim Generalbundesanwalt eingegangen war.

Schwerer Verlust für Hinterbliebene

In der Grimm-Stadt findet eine gemeinsamen Gedenkfeier des Landes Hessen und der Stadt Hanau unter Anwesenheit des Bundespräsidenten zu den Attentaten im Januar 2020 statt. Foto: Andreas Arnold/dpa
In der Grimm-Stadt fand eine gemeinsamen Gedenkfeier des Landes Hessen und der Stadt Hanau unter Anwesenheit des Bundespräsidenten zu den Attentaten im Januar 2020 statt. Foto: Andreas Arnold/dpa

Trauer und Schmerz, aber auch Enttäuschung und Bitterkeit – ein Jahr nach dem rassistisch motivierten Anschlag in Hanau sind die Hinterbliebenen gezeichnet von ihrem schweren Verlust.

„Seitdem steht die Welt um uns still. Nichts ist mehr so wie es einmal war“, sagte Armin Kurtović, dessen Sohn Hamza am 19. Februar vor einem Jahr getötet worden war, am Freitagabend bei einer bewegenden Gedenkveranstaltung in Hanau.

Tag für Tag beschäftige ihn die Frage, wie es so weit kommen konnte und warum die Tat nicht verhindert werden konnte. Das müsse lückenlos aufgeklärt werden – doch fehle es am Willen dazu.

„Seit einem Jahr versuchen wir selbst Antworten auf unsere Fragen zu finden, da wir von den zuständigen Stellen kein Gehör finden und immer wieder abgewiesen werden“, sagte Kurtović.

Bundespräsident fordert Aufklärung

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier während seiner Rede bei der Gedenkfeier für die Opfer von Hanau im Congress-Park-Hanau. Foto: Boris Roessler/dpa
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier während seiner Rede bei der Gedenkfeier für die Opfer von Hanau im Congress-Park-Hanau. Foto: Boris Roessler/dpa

An der Gedenkveranstaltung nahmen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) teil. Steinmeier stellte sich hinter die Forderung der Angehörigen nach einer Aufklärung aller offenen Fragen.

Zugleich rief er die Bürger zum Zusammenhalt gegen Hass, Rassismus und Hetze auf. „Aufklärung und Aufarbeitung stehen nicht in freiem Ermessen. Sie sind Bringschuld des Staates gegenüber der Öffentlichkeit und vor allem gegenüber den Angehörigen“, sagte der Bundespräsident.

Er wisse, dass es Kritik und Fragen an das staatliche Handeln gegeben habe und weiter gebe. Auch der Staat und die, die in ihm Verantwortung tragen, seien nicht unfehlbar. Wo es Fehler oder Fehleinschätzungen gegeben habe, müsse aufgeklärt werden, sagte Steinmeier.

„Nur in dem Maße, in dem diese Bringschuld abgetragen wird und Antworten auf offene Fragen gegeben werden, kann verlorenes Vertrauen wieder wachsen. Deshalb müssen wir uns so sehr darum bemühen. Der Staat ist gefordert“, so Steinmeier.

Keineswegs seien ein Jahr nach dem Anschlag die Trauer gewichen, der Schmerz geringer geworden, die Wut verflogen, alle Fragen beantwortet. „Doch als Bundespräsident stehe ich hier und bitte uns: Lasst nicht zu, dass die böse Tat uns spaltet! Übersehen wir nicht die bösen Geister in unserer Mitte – den Hass, die Ausgrenzung, die Gleichgültigkeit. Aber lasst uns glauben an den besseren Geist unseres Landes, an unsere Kraft zum Miteinander, zum gemeinsamen Wir!“

Steinmeier: „Kein Zufall“

Zwei Demonstranten am Heumarkt, in der Nähe eines der Tatorte in Hanau. Foto: Andreas Arnold/dpa
Zwei Demonstranten am Heumarkt, in der Nähe eines der Tatorte in Hanau. Foto: Andreas Arnold/dpa

Der Bundespräsident hatte die Hinterbliebenen der Opfer im vergangenen September ins Schloss Bellevue eingeladen und mit ihnen Gespräche geführt. Unmittelbar vor der Gedenkveranstaltung hatte er sich mit einem persönlichen Brief an die Familien gewandt.

In seiner Rede sagte er ihnen: „Ich bin hier, weil mich zutiefst bedrückt, dass unser Staat sein Versprechen von Schutz, Sicherheit und Freiheit, das er allen gibt, die hier gemeinsam friedlich leben, gegenüber Ihren Angehörigen nicht hat einhalten können.“

Wie der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke und der Anschlag auf die Synagoge in Halle seien auch die Morde von Hanau kein Zufall gewesen. „Die Taten waren von gezielt gesteuertem Hass initiiert, die Täter davon ermutigt“, sagte Steinmeier.

„Die bösartige Menschenfeindlichkeit, die sich im Netz oder anderswo zeigt, ist das gefährliche Gift einer kleinen Minderheit – aber ein Gift, das Wirkung hat. Das immer wieder Menschen glauben macht, sie dürften im Namen eines angeblichen Volkswillens andere Menschen demütigen, bedrohen, jagen oder gar ermorden“, so Steinmeier.

Lübckes Familie übermittelte den Hinterbliebenen der Opfer von Hanau am Freitag ihr Mitgefühl. Es bleibe aber nicht nur Schmerz, sondern es gebe auch viele drängende Fragen, erklärte sie und wünschte den Angehörigen, dass diese bald beantwortet werden.

„Es wird ihre Töchter und Söhne, Geschwister, Freundinnen und Freunde nicht zurückbringen. Es wird die Tat nicht ungeschehen machen. Aber es kann helfen, mit dem großen Schmerz und dem tiefen Verlust umzugehen und Kraft geben, weiter für unsere Werte Haltung zu zeigen“, so Familie Lübcke.

Rudi Völler eröffnete Gedenkveranstaltung

Rudi Völler, ehemaliger deutscher Fußballspieler und Ehrenbürger der Stadt Hanau, entzündet während der Gedenkfeier für die Opfer von Hanau im Congress-Park-Hanau die Gedenkkerze. Foto: Boris Roessler/dpa
Rudi Völler, ehemaliger deutscher Fußballspieler und Ehrenbürger der Stadt Hanau, entzündet während der Gedenkfeier für die Opfer von Hanau im Congress-Park-Hanau die Gedenkkerze. Foto: Boris Roessler/dpa

Mit einem Zitat von Wilhelm Grimm hatte der frühere Fußball-Nationalstürmer Rudi Völler die Gedenkveranstaltung am Abend eröffnet:

„Hass, der alle anderen Gefühle bald überflügelt, zerstört mehr als alles andere das ruhige und gedeihliche Leben eines Staates, das auf der inneren Gesinnung der Menschen beruht, nicht auf Bajonetten“, schrieb der berühmte Märchensammler, der ebenso wie sein Bruder Jacob in Hanau geboren wurde.

Im Anschluss entzündete Völler, der Ehrenbürger von Hanau ist, eine Gedenkkerze für die Todesopfer, deren Namen später von Bouffier und Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) abwechselnd verlesen wurden: Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun und Fatih Saraçoğlu. Bilder der Toten waren auf Stelen zu sehen, die nach und nach beleuchtet wurden.

Schon vor der offiziellen Gedenkveranstaltung waren am Morgen rund 500 Angehörige und Hanauer Bürger auf dem Hauptfriedhof zu einer Andacht zusammengekommen. Sie versammelten sich an einem Ensemble von Ehrengräbern, wo Ferhat Unvar, Hamza Kurtović und Said Nesar Hashemi begraben sind. Zu dem Ensemble gehören auch Gedenksteine für die weiteren sechs Todesopfer. Verschiedene Religionsgemeinschaften und Gruppierungen erinnerten mit Demonstrationen und einer Kranzniederlegung an die Ermordeten.

Maas ruft zu Kampf gegen Rechtsextremismus auf

Ein Bündnis Hanauer Jugendorganisationen unter dem Motto 'Kein Vergeben - Kein Vergessen - Gemeinsam gegen Rassismus' demonstriert auf dem Marktplatz am Brüder Grimm-Denkmal. Foto: Andreas Arnold/dpa
Ein Bündnis Hanauer Jugendorganisationen unter dem Motto ‚Kein Vergeben – Kein Vergessen – Gemeinsam gegen Rassismus‘ demonstriert auf dem Marktplatz am Brüder Grimm-Denkmal. Foto: Andreas Arnold/dpa

Außenminister Heiko Maas rief im Vorfeld der Gedenkfeier zu einem verstärkten Kampf gegen Rechtsextremismus und Rassismus auf und griff die AfD scharf an. „Lassen wir die rassistische Hetze nicht unwidersprochen in der Öffentlichkeit und in unseren Parlamenten“, sagte der SPD-Politiker der Deutschen Presse-Agentur. „Die AfD als eine geistige Brandstifterin ist längst ein Fall für den Verfassungsschutz, und gleichzeitig müssen wir alles tun, um Rechtspopulisten politisch zu bekämpfen.“

Niemand könne sagen, man habe Hanau nicht kommen sehen, sagte Maas. Seit Jahren würden die Zahlen des Verfassungsschutzes für sich sprechen. Über 33.000 Rechtsextreme lebten in Deutschland, 13.000 davon seien gewaltbereit, Tendenz steigend. „Warum schrillen bei uns nicht alle Alarmglocken?“, fragte der Außenminister.

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) erklärte, dass alle Menschen in Deutschland sicher leben können müssten. „Die Bevölkerung kann sich darauf verlassen“, sagte er in einem vom Bundesinnenministerium am Freitag auf Twitter verbreiteten Zitat. „Wir bieten denen die Stirn, die das Gift des Rechtsextremismus, des Rassismus und des Antisemitismus verbreiten und unsere freiheitliche Lebensweise bekämpfen.“

Robert Habeck fordert Konsequenzen

Der Attentäter Tobias R. hatte am Abend des 19. Februar 2020 neun Menschen mit Migrationshintergrund erschossen, bevor er seine Mutter und sich tötete. Foto: Andreas Arnold/dpa
Der Attentäter Tobias R. hatte am Abend des 19. Februar 2020 neun Menschen mit Migrationshintergrund erschossen, bevor er seine Mutter und sich tötete. Foto: Andreas Arnold/dpa

Grünen-Chef Robert Habeck forderte weiterreichende Konsequenzen aus dem rassistischen Anschlag von Hanau. „Politisch muss mehr geschehen, als es bisher der Fall ist“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. „Die Bundesregierung ist in der Verantwortung, ihre Maßnahmen gegen Rassismus rasch umzusetzen.“ Das Kabinett hatte im Dezember einen 89-Punkte-Plan zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus verabschiedet.

Es brauche zügig ein Demokratiefördergesetz als Grundlage für die Förderung von politischer Bildung, antirassistischen Initiativen und der Aussteigerberatung für Rechtsextreme, betonte Habeck. „Zudem wollen wir Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften mit Fokus auf rechtsextreme Straftaten und eine ‚Task Force Rechtsextremismus‘ als Anlaufstelle für von rechter Gewalt bedrohte Menschen einrichten.“

„Bei dem Anschlag wurden unsere Nachbarn, Kolleginnen, Mitbürgerinnen und Mitbürger aus der Mitte der Gesellschaft getroffen“, sagte Habeck. „Der Respekt vor den Opfern gebietet es, dass die Tat vollständig aufgeklärt wird, auch wenn der Täter sich das Leben genommen hat und deshalb nicht mehr vor Gericht gestellt werden kann.“

Der 43-jährige Deutsche Tobias R. hatte am Abend des 19. Februar 2020 neun Menschen mit ausländischen Wurzeln an mehreren Orten in der Stadt im Rhein-Main-Gebiet erschossen, bevor mutmaßlich er seine Mutter tötete und anschließend sich selbst. Zuvor hatte er Pamphlete und Videos mit Verschwörungstheorien und rassistischen Ansichten im Internet veröffentlicht.

Die Tat hatte Entsetzen in Deutschland ausgelöst. Die ‚Initiative 19. Februar Hanau‘, ein Zusammenschluss von Hanauer Angehörigen, spricht unter anderem von einem „Versagen der Behörden vor, während und nach der Tat“. Angehörige der Opfer hatten wiederholt Aufklärung gefordert, etwa zur Frage, warum der unter Wahnvorstellungen leidende Täter Waffen besitzen durfte.

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