Frankfurt/Main (dpa) – In der Corona-Pandemie müssen sich alle neu orientieren – manchen aber fällt das besonders schwer: Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung (ASS). Sie haben ein starkes Bedürfnis nach Struktur und Vorhersehbarkeit, brauchen ihre Routinen und gewohnten Abläufe. Wie kommen sie mit der aktuellen Situation zurecht? Karoline Teufel, Leiterin des Frankfurter Autismus-Therapie- und Forschungszentrums, berichtet von Zusammenbrüchen und Krisen – aber auch von besonderen Stärken, mit denen diese Menschen manches leichter ertragen.
Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die viele Formen annehmen kann. Die verschiedenen Ausprägungen wurden daher in einem „Spektrum“ zusammengefasst. Dazu gehören der frühkindliche Autismus oder das Asperger-Syndrom. Gemeinsam sind ihnen die Schwierigkeiten im sozialen Umgang mit Mitmenschen und in der Kommunikation sowie die Neigung zu stereotypen Verhaltensweisen. Schätzungen gehen davon aus, dass ein bis zwei Prozent der Bevölkerung betroffen sind.
In der Ambulanz des Frankfurter Zentrums finden viele Betroffene Hilfe. Dennoch wollte keine Familie ihre aktuelle Situation schildern – zu groß ist der Stress, um auch nur ein Telefonat dazwischenzuquetschen. Seit Beginn der Corona-Krise vor mehr als einem Jahr beobachten die Mitarbeiter des Zentrums eine wachsende Belastung der Familien: „Je länger der Lockdown andauert, desto mehr merken wir, dass der Wegfall von gewohnten Strukturen ein Problem darstellt“, sagt Teufel. „Das führt zu Verunsicherung. Herausfordernde Verhaltensweisen nehmen zu.“
Masken sind ein schwieriges Thema
Herausfordernde Verhaltensweisen: Das können Unruhe und Anspannung sein, Zwangsverhalten, Aggression oder Selbstverletzung. Die Patienten fallen in alte Muster zurück, die sie mit Hilfe der Therapeuten bereis überwunden hatten, oder verlieren sich etwa in exzessivem Computerspielen. „Das birgt natürlich Konfliktpotenzial in den Familien“, sagt Teufel. „Die Herausforderungen, die ohnehin bestehen, werden noch einmal verstärkt.“
Schwierig ist auch das Thema Maske. Da sich autistische Kinder schwer an Neues gewöhnen, tolerieren sie bisweilen das Tragen nicht. Die Eltern müssen sich dann in der Öffentlichkeit noch mehr Vorwürfe über ihre vermeintlich schlecht erzogenen Kinder anhören als sonst. So wird der Gang nach draußen vermieden, der Rückzug verstärkt.
Auch in der Therapie ist Gesichtsbedeckung hinderlich. Das Zentrum betreibt eine Spezialambulanz für Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen und ist zugleich ein Forschungszentrum. Zwölf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betreuen derzeit rund 80 Kinder und Jugendliche. Eines der Förderziele ist, Mimik richtig interpretieren – mit Maske vor dem Mund kaum möglich.
So viel Bekanntes wie möglich beibehalten
Was raten die Therapeuten Familien in dieser anstrengenden Zeit? Sie sollten versuchen, möglichst viel Bekanntes beizubehalten oder – wenn das nicht geht – neue Routinen einzuführen, etwa für Essen, Schlafen, Hausaufgaben oder Computerspielen. „Rituale, die das Miteinander oder auch den Tagesablauf regeln, tragen erheblich zur Stabilisierung und zur Entspannung bei“, heißt es in einem Infoblatt für Eltern.
Wie stark die Pandemie Menschen mit ASS belastet ist unterschiedlich: „Menschen mit Autismus sind genauso verschieden wie Menschen ohne Autismus“, sagt Teufel. Aber manche Eltern machen sich Sorgen, dass Patienten nach Ende des Lockdowns die Rückschritte nicht wieder aufholen können. „Andererseits wachsen viele gerade über sich hinaus“, sagt Teufel.
„In einigen wenigen Punkten“ hätten Menschen mit ASS derzeit sogar Vorteile, gibt sie zu bedenken. Soziale Kontakte sind für viele Betroffene anstrengend, daher leiden sie unter Kontaktbeschränkungen oft weniger. Und Menschen mit Asperger-Syndrom falle es leicht, sich an Regeln zu halten, „derzeit definitiv eine Stärke“.
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