News Politik Topnews

Wahlkampf voller Wendungen – Ausgang offen wie selten zuvor

Kanzlerkandidaten: Olaf Scholz (l-r), Annalena Baerbock und Armin Laschet. Foto: Kay Nietfeld/dpa
Kanzlerkandidaten: Olaf Scholz (l-r), Annalena Baerbock und Armin Laschet. Foto: Kay Nietfeld/dpa

Der Wahlkampf 2021 ist besonders: Viele Wendungen wirbelten die Erwartungen durcheinander. Die Ungewissheit ist groß. Und auch auf den letzten Metern kann es noch Überraschungen geben.

Ob Armin Laschet manchmal noch an den 16. Januar dieses Jahres zurückdenkt? Damals wurde er CDU-Vorsitzender. Und am Vortag hatte die Forschungsgruppe Wahlen eine Umfrage mit den Zahlen 37, 15, 20 veröffentlicht – 37 Prozent für CDU/CSU, 15 für die SPD, 20 für die Grünen.

Acht Monate später lautet die Zahlenkette 22, 25, 16. Und Laschet muss sich – wie am Sonntag in der „Tachles Arena“ des Zentralrats der Juden in Deutschland – fragen lassen: „Was ist da schiefgelaufen?“ Man sei jetzt eine Woche vor der Wahl, lautete die etwas müde Antwort. „Und ich würde einfach empfehlen, jetzt mal abzuwarten, was die Wählerinnen und Wähler entscheiden.“

Egal wie die Wähler entscheiden werden, eines steht jetzt schon fest: Mit der Bundestagswahl am kommenden Sonntag kommt auch Deutschland endgültig in der Ära jenseits großer Volksparteien an. Erstmals seit Adenauer-Zeiten wird es wohl im Bund ein Dreierbündnis als Koalition geben.

Doch die Ungewissheit, was nach 16 Jahren Angela Merkel und CDU/CSU-geführter Bundesregierung genau kommt, ist immens. Es gibt Szenarien. Aber niemand weiß, ob sich in den verbleibenden Tagen noch etwas dreht. Wie die Union hoffen auch die Grünen auf einen Last-Minute-Swing. Und liegen die Demoskopen überhaupt richtig?

Der Absturz des Armin Laschet

Viele Erwartungen wurden in den vergangenen Monaten kräftig durcheinandergewirbelt. Laschet mag noch im März gedacht haben, das Kanzleramt für die Union ohne größere Anstrengung und auch ohne Polarisierung verteidigen zu können – bevor er ins Umfragetief fiel und nun voll auf Lagerwahlkampf und Attacke setzt.

„Wenn wir es nicht schaffen, die Mehrheit zu kriegen, wird das ein Anschlag auf den Wohlstand Deutschlands und auf das Industrieland“, argumentiert er jetzt in der heißen Wahlkampfphase. Paradoxerweise sieht das sein SPD-Kontrahent Olaf Scholz genau umgekehrt: „Eine CDU-geführte Regierung würde Deutschland Wohlstand und Arbeitsplätze kosten.“ Der noch unentschlossene Wähler dürfte sich fragen: „Ja, was nun?“

Laschet musste die bittere Erfahrung machen, dass im Wahlkampf diesmal nicht nur Argumente zählten. Die Twitter-Blase interessierte sich mehr für ein unglückliches Lachen im Hochwassergebiet oder für die Frage, in welchen Schuhen er dort erschien.

Dazu kamen hausgemachte Probleme: Während andere Parteien schon im Wahlkampfmodus waren, kämpften bei der Union die Parteichefs Laschet (CDU) und Markus Söder (CSU) noch erbittert und auf offener Bühne um die Kanzlerkandidatur. Und nachdem Söder den Kürzeren gezogen hatte, konnte er sich ständige Sticheleien gegen Laschet nicht verkneifen.

Die Union will nun in der Schlussphase des Wahlkampfs zumindest ihre Stammwählerschaft mobilisieren. Daher rührt auch das Schreckgespenst Rot-Rot-Grün, das Laschet permanent an die Wand malt.

Der Aufstieg und Fall der Annalena Baerbock

Der Blick zurück muss auch für die Grünen bitter ausfallen. Ihr Traum vom Kanzleramt platzte wie eine Seifenblase – wenngleich Frontfrau Baerbock tapfer weiter für eine grün geführte Regierung wirbt.

Ihre Nominierung als Kanzlerkandidatin katapultierte die Partei im Frühjahr in Umfragen zeitweise auf bis zu 28 Prozent – knapp vor CDU und CSU. Doch dann patzte Baerbock mit verspätet an den Bundestag gemeldeten Zahlungen, Fehlern im Lebenslauf und einem Buch, in dem viele Passagen auffällig nach zuvor schon veröffentlichten Texten klingen. Die Kandidatin verlor ihr wichtigstes Gut: Integrität.

Seit Beginn des Wahljahres kokettierten die Grünen mit ihrer Rolle als „Underdog“. Da gingen sie noch von einem Duell mit der Union aus. Die SPD war lange keine Variable in ihrem Machtkalkül. Jetzt müssen sie fürchten, dass Sympathisanten, die Laschet als Kanzler verhindern wollen, aus taktischen Gründen die SPD wählen.

Der Wahlkampf 2021, in dem die Ökopartei erstmals eine eigene Kanzlerkandidatin ins Rennen schickte, galt als historische Chance: Die ewige Kanzlerin Merkel tritt ab, der Klimaschutz als Kernthema der Grünen hat Hochkonjunktur, die Menschen wünschen sich einen politischen Neuanfang. Auf diesen Annahmen beruhte die Wahlkampagne mit dem Slogan „Bereit, weil Ihr es seid“.

Sollten die Grünen am Sonntag auf die 15 bis 17 Prozent kommen, die ihnen die Umfragen vorhersagen, könnten sie das als Erfolg verkaufen: Es wäre fast eine Verdopplung ihres 2017er Ergebnisses (8,9). Gemessen am eigenen Anspruch wären die Grünen dennoch gescheitert.

Der Aufstieg des Olaf Scholz

Parallel zum Niedergang von Laschet und Baerbock und ihrer Parteien vollzog sich der Aufstieg der SPD und ihres Kanzlerkandidaten Scholz. Noch am Jahresanfang gaben ihm wohl die Wenigsten echte Chancen. Seit Jahren war man an SPD-Umfragewerte deutlich unter 20 Prozent gewöhnt, bis die Werte im August plötzlich nach oben gingen.

Eine Erklärung dafür dürfte sein, dass Laschet und Baerbock Fehler machten – und Scholz eben nicht. Im Wahlkampf arbeitete er sich nicht an den anderen ab, sein Ton blieb sachlich. Das kam offensichtlich an, wie auch die persönlichen Umfragewerte zeigen. Wenn es etwa um die Frage geht, wen die Bürger als Kanzler wollen, hängt Scholz seine Konkurrenten nun deutlich ab. Auch aus drei Triell-Fernsehrunden ging er den Blitzumfragen im Anschluss zufolge jeweils als Sieger hervor.

Vielen scheint der Vizekanzler am besten geeignet, um das Vakuum auszufüllen, das Merkel hinterlässt. Auf den letzten Metern geriet der Finanzminister aber unter Druck. Niemand weiß, wie es sich nun auswirkt, dass zweieinhalb Wochen vor der Wahl niedersächsische Staatsanwälte mit Durchsuchungsbeschluss in seinem Ministerium auftauchten – auch wenn gar nicht gegen Mitarbeiter des Ministeriums oder schon gar gegen Scholz selbst ermittelt wird.

Laschet und Baerbock versuchten dies gleichwohl zu skandalisieren und thematisierten gleich mögliche Versäumnisse des Finanzministers und früheren Hamburger Regierungschefs im Wirecard- und Cum-Ex-Skandal mit. Scholz ließ die Vorwürfe an sich abperlen. Helfen könnte ihm, dass viele Wählerinnen und Wähler schon Briefwahl gemacht haben, so dass die jüngste Entwicklung keinen Einfluss mehr hat.

Wer mit wem nach dem 26. September?

Je näher der Wahltag rückt, umso klarer wird: Die Regierungsbildung anschließend dürfte schwer werden. Selbst wenn die SPD klar vorn liegen sollte.

Dann dürfte Scholz eine Ampelkoalition schmieden wollen. Seit Wochen fällt seine Charmeoffensive gegenüber der FDP auf. Auf deren Vorsitzenden Christian Lindner könne man „sich verlassen“, sagt er etwa. Wobei Lindner ihm bislang die kalte Schulter zeigt und stereotyp erklärt: „Mir fehlt die Fantasie, welches Angebot Rot-Grün der FDP machen könnte.“

Lindner setzt erklärtermaßen auf die Union als Wunschpartner, auch wenn er in der Wahlkampfschlussphase auch gegen CDU und CSU schießt, deren Konzepte eine schlechte Kopie des FDP-Programms nennt und empfiehlt, lieber gleich das „Original“ zu wählen.

Da passt es, dass Scholz Rot-Rot-Grün nicht dezidiert ausschließt – trotz der Neuauflage der Rote-Socken-Kampagne der Union. Vielen in der SPD und bei den Grünen gilt so ein Bündnis nicht als erstrebenswert, aber notfalls verhandelbar. In der Parteizentrale der Linken bereitet man sich auf Sondierungen jedenfalls vor. Spitzenkandidat Dietmar Bartsch machte bereits deutlich, dass ein Nato-Austritt für die Linke keine Bedingung für eine Koalition wäre.

Schafft Laschet noch die Aufholjagd und landet seine Union vor der SPD, stehen die Zeichen auf Jamaika, also ein Bündnis der Union mit Grünen und FDP. Doch dann dürften die Grünen unter Druck stehen. Wenn die SPD nur knapp hinten liegen sollte, könnte Scholz trotzdem versuchen, eine Ampel zu schmieden.

Immer häufiger ist in diesen Tagen in Berlin zu hören, dass nicht automatisch die Partei den Kanzler stellen müsse, die bei der Wahl am besten abschneidet. Als Paradebeispiel dafür wird die Bundestagswahl 1976 genannt: Damals lag die CDU/CSU mit ihrem Kandidaten Helmut Kohl ganze sechs Punkte vor der SPD von Kanzler Helmut Schmidt – 48,6 zu 42,6 Prozent. Dennoch setzte die SPD ihre Koalition mit der FDP fort.

© dpa-infocom, dpa:210920-99-289541/4



[plista widgetname=plista_widget_belowArticle]

Hinterlasse einen Kommentar