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Impfpflicht: Rechtlich möglich – auch gewollt und sinnvoll?

Verfassungsrechtler sehen eine Impfpflicht als rechtlich möglich an, und der Bund hat die Gesetzgebungskompetenz dafür. Wie sie praktisch umgesetzt werden könnte, ist bislang allerdings unklar. Foto: Robert Michael/dpa-Zentralbild/dpa
Verfassungsrechtler sehen eine Impfpflicht als rechtlich möglich an, und der Bund hat die Gesetzgebungskompetenz dafür. Wie sie praktisch umgesetzt werden könnte, ist bislang allerdings unklar. Foto: Robert Michael/dpa-Zentralbild/dpa

Immer vehementer wird über eine allgemeine Impfpflicht diskutiert. Die wichtigsten Fakten und Stimmen zur wissenschaftlichen, rechtlichen und gesellschaftlichen Lage.

„Wir machen ein Impfangebot, setzen auf Freiwilligkeit und Vernunft.“ Gut ein Jahr ist dieser Satz von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn alt.

Allein: Mit Freiwilligkeit wurde in Deutschland bislang keine angemessene Impfquote erreicht. Die Lage ist nun äußerst kritisch – und eine allgemeine Impfpflicht erscheint immer wahrscheinlicher.

Warum wird der Ruf danach lauter und lauter?

Der relativ hohe Anteil an Ungeimpften sorgt für eine prekäre Lage in dieser vierten Corona-Welle. Intensivstationen in Bayern, Sachsen, Thüringen und in einigen Ballungsräumen sind bereits überlastet.

„Mindestens 90 Prozent der Menschen in diesem Land müssen eine Immunität haben, um das vernünftig kontrollieren zu können“, erläuterte der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler. Aktuell haben laut RKI 68,6 Prozent der Gesamtbevölkerung die Grundimmunisierung durch die Impfung (doppelt geimpft). Eine Auffrischung (Booster) haben bislang 12,5 Prozent erhalten.

Was hält die Wissenschaft von der Pflicht?

„Es ist wirklich niemand, der gerne eine Impfpflicht haben möchte“, sagte RKI-Präsident Wieler vorige Woche in einem ZDF-Interview. Er bezog sich dabei auf ein Papier der Weltgesundheitsorganisation (WHO): Wenn man alles andere versucht habe, müsse man aber auch über eine Impfpflicht nachdenken.

In ihrem Statement vom April hebt die WHO hervor, die Politik müsse den Nutzen der Impfung vermitteln, um Akzeptanz und Freiwilligkeit zu fördern. Eine allgemeine Impfpflicht könne nur das letzte Mittel sein und müsse ethisch sorgfältig abgewogen werden.

Wäre eine allgemeine Impfpflicht verfassungsrechtlich möglich?

Ja. Verfassungsrechtler sehen sie als rechtlich möglich an, und der Bund hat die Gesetzgebungskompetenz dafür. Seine Zuständigkeit ergibt sich aus Artikel 74 Grundgesetz (GG): Er kann Gesetze für Maßnahmen gegen „gemeingefährliche und übertragbare Krankheiten“ erlassen.

„Die Verhältnismäßigkeit ist der rechtliche Schlüssel, um eine Impfpflicht im Einklang mit dem Grundgesetz umzusetzen“, sagte Verwaltungsrechtler Arne Pautsch von der Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen in Ludwigsburg vor einigen Tagen der Bietigheimer Zeitung.

Eine Impfpflicht sei nicht mit einem Impfzwang gleichzusetzen. Durch eine Rechtspflicht statuiere man ein Gebot, „das zugleich Ausdruck einer gesellschaftlichen Verpflichtung zum Schutze von Leben und Gesundheit aller ist“, so Pautsch.

Allerdings gibt es auch Stimmen, die mildere Maßnahmen für noch nicht ausgeschöpft und eine allgemeine Impfpflicht derzeit für unverhältnismäßig halten.

Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung?

Eine deutliche Mehrheit will die Pflicht nun. Ende November sprachen sich laut ZDF-Politbarometer mehr als zwei Drittel der befragten Wahlberechtigten dafür aus (Juli: ein Drittel). Eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov bestätigt diese Zahl.

Und wie ist der Stand in der politischen Debatte?

Eine Impfpflicht für bestimmte Bereiche wird so gut wie sicher kommen – etwa für Beschäftigte in Pflegeheimen und Kliniken. Auch für Kitas ist sie im Gespräch.

In der Politik mehren sich die Stimmen, die eine allgemeine Impfpflicht fordern. Am Dienstag plädierte der designierte Bundeskanzler Olaf Scholz dafür. Für die Abstimmung im Bundestag solle der Fraktionszwang aufgehoben werden, sagte der SPD-Politiker.

Auch der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck zeigt sich offen für eine allgemeine Impfpflicht. Er wies jedoch in der „Süddeutschen Zeitung“ darauf hin, es sei schon zu spät, um die aktuelle Welle zu brechen – selbst wenn sie sofort käme.

Aus den Reihen der FDP gebe es Stimmen dafür und dagegen, wenn im Bundestag ohne Fraktionszwang über eine Covid-19-Impfpflicht abgestimmt werden sollte, sagte der bisherige Fraktionsvize Stephan Thomae am Mittwoch der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Wie viele es jeweils seien, könne er noch nicht abschätzen. Denn das hänge auch von der konkreten Ausgestaltung des Entwurfs ab.

Führende CDU-Politiker hatten sich in der Vergangenheit eher skeptisch gegenüber einer verpflichtenden Impfung geäußert. Der rechts- und verbraucherpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Jan-Marco Luczak, sagte indes am Dienstag angesichts der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: Auch bei der Frage einer generellen Impfpflicht dürften die Freiheitsrechte der Ungeimpften nicht absolut gestellt werden.

Der AfD-Fraktionsvorsitzende Tino Chrupalla geht davon aus, dass kein Mitglied seiner Fraktion für eine allgemeine Impfpflicht stimmen werde. Er rechne mit einer „hundertprozentigen“ Ablehnung, sagte er am Mittwoch der dpa.

Wie könnte eine Impfpflicht praktisch umgesetzt werden?

Darauf gibt es bislang kaum konkrete Antworten. Unstrittig ist: Es geht um eine Pflicht, keinen Zwang.

„Käme es zu einer allgemeinen Impfpflicht, gibt es einen breiten Konsens unter Verfassungsrechtlern, dass es nicht zulässig wäre, Menschen zur Impfung zu zwingen“, so der designierte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) zum Redaktionsnetzwerk Deutschland. Für Impfverweigerer sind ein Bußgeld oder Maßnahmen beim Krankenversicherungsschutz denkbar.

Wie gehen andere europäischen Länder bei dem Thema vor?

Als europäischer Vorreiter gilt Österreich, wo die Regierung Mitte November eine entsprechende Regelung ankündigte. Bislang ist allerdings nur bekannt, dass die allgemeine Impfpflicht im Februar in Kraft treten soll, dass zumindest Grundschulkinder davon ausgenommen werden und dass bei Verstößen Verwaltungsstrafen drohen.

In Frankreich gibt es angesichts der hohen Impfquote derzeit keine Diskussion über eine allgemeine Impfpflicht. Seit Mitte September ist dort die Covid-Impfung für rund 2,7 Millionen Beschäftigte verpflichtend, vor allem im Gesundheitsbereich.

Italiens Regierung beschloss Ende November, die Corona-Impfpflicht auszuweiten. Sie galt bislang für die Belegschaft in Krankenhäusern sowie in Alten- und Pflegeheimen. Ab dem 15. Dezember muss auch das Personal in Schulen, der Polizei, der Rettungsdienste und des Militärs geimpft sein. Wer sich nicht an die Impfpflicht hält, wird vom Dienst suspendiert. Zudem drohen Strafen von 600 bis 1500 Euro.

Griechenland hat Anfang Juli eine Impfpflicht für Beschäftigte in Gesundheit und Pflege angeordnet. Seit September werden ungeimpfte Beschäftigte ohne Lohn vom Dienst freigestellt. Vom 16. Januar 2022 an gilt zudem eine Impfpflicht für Menschen über 60. Ungeimpfte müssen dann monatlich 100 Euro Strafe zahlen. Das Argument der Regierung: Die Älteren seien durch Covid-19 besonders gefährdet.

Welche Effekte kann eine Impfpflicht auf bisher Ungeimpfte haben?

Sie könnte die Haltung von Impfgegnern eher ändern, meint der Marburger Sozialpsychologe Ulrich Wagner.

Ein Teil der Bevölkerung habe sich in dem Selbstverständnis eingemauert, sich nicht impfen zu lassen. In dieser „Blase“ werde diese Meinung ständig bekräftigt und verstärkt. Eine Impfpflicht brächte ein neues Argument ins Spiel – sowohl für die eigene Überzeugung als auch gegenüber der Gruppe, so Wagner.

Der Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld, Andreas Zick, sieht dagegen die Gefahr einer weiteren Radikalisierung bei Impfgegnern – und ein schwindendes Verständnis für diese. Es gebe ein Milieu, das sich „von gar keinen Argumenten mehr überzeugen lässt“, sagte er dem TV-Sender Phoenix. Man wisse noch nicht genau, inwieweit diese Gruppen einen neuen Extremismus bildeten.

Für Masern gibt es eine Impfpflicht – wie sieht es damit aus?

Sie gilt seit 1. März 2020 für bestimmte Gruppen. Bei Neueintritt in Kita oder Schule müssen die Eltern nachweisen, dass der Nachwuchs geimpft oder bereits immun ist.

Kitas dürfen ungeimpfte Kinder nicht aufnehmen. Schulen dürfen Kinder nicht ausschließen, es können jedoch Bußgelder bis zu 2500 Euro gegen die Eltern verhängt werden.

Die Masern-Impfpflicht gilt auch für Erzieherinnen, Lehrer und Tagesmütter, wenn sie nach 1970 geboren wurden; Ältere werden als immun eingestuft. Vor Einführung der Impfpflicht waren laut RKI bei den Schuleingangsuntersuchungen 97 Prozent einmal und 93 Prozent doppelt gegen Masern geimpft.

Gab es auch schon andere Pflichtimpfungen?

Ja. In der Bundesrepublik bestand eine Impfpflicht für Diphtherie und teilweise Scharlach (bis 1954) sowie eine für Pocken.

Letztere wurde bis 1983 schrittweise aufgehoben. Bei ihr musste im Deutschen Kaiserreich der Impfschein bei der Einschulung vorgelegt werden.

In der DDR waren im Laufe der Zeit verschiedene Impfungen für Kinder und Jugendliche verpflichtend, etwa gegen Tuberkulose, Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten sowie Masern.

© dpa-infocom, dpa:211201-99-217862/2

weiterführende Informationen:
➡️ Artikel 74 GG: konkurrierende Gesetzgebung
➡️
Artikel 2 GG: Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit
➡️
Wisenschaftliche Dienste Bundestag: Zulässigkeit Impfpflicht
➡️
Jens Spahn im November 2020 zur Corona-Impfpflicht

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