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Afghanistan: Taliban nehmen die Hälfte der Provinzhauptstädte ein

Afghanische Militärfahrzeuge stehen während der Kämpfe zwischen den Taliban und afghanischen Sicherheitskräften in der Stadt Kandahar südwestlich von Kabul. Foto: Sidiqullah Khan/AP/dpa
Afghanische Militärfahrzeuge stehen während der Kämpfe zwischen den Taliban und afghanischen Sicherheitskräften in der Stadt Kandahar südwestlich von Kabul. Foto: Sidiqullah Khan/AP/dpa

Die Sicherheitslage in Afghanistan spitzt sich zu: Die Taliban kontrollieren mehr als die Hälfte der Provinzhauptstädte, darunter Großstädte wie Herat und Kandahar. Nun rücken sie auf Kabul vor.

Die militant-islamistischen Taliban haben in Afghanistan ihre Gebietsgewinne in rasantem Tempo fortgesetzt und binnen einer Woche mehr als die Hälfte aller Provinzhauptstädte eingenommen.

Am Freitag waren nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur 18 der 34 Provinzhauptstädte unter Kontrolle der Islamisten. Nach der zweitgrößten Stadt Kandahar in der Nacht und der wichtigen Stadt Laschkargah am Morgen eroberten die Taliban mit Pul-i Alam in der Provinz Logar eine Provinzhauptstadt nur rund 70 Kilometer südlich der Hauptstadt Kabul.

Die Taliban hätten dort die wichtigsten Regierungseinrichtungen der Stadt übernommen und den Provinzgouverneur sowie den Geheimdienstchef gefangen genommen, sagten ein Provinzrat und ein Parlamentarier der Deutschen Presse-Agentur.

Aus Sicherheitskreisen heißt es seit längerem, dass in der Provinz Logar Taliban-Kämpfer für einen Angriff auf Kabul versammelt werden. Die Taliban kontrollieren fünf der sieben Bezirke, die zwei näher zur Provinz Kabul liegenden – Choschai und Mohammed Agha – sind umkämpft. Von Pul-i Alam sind es nur rund eineinhalb Stunden mit dem Auto nach Kabul.

„Armee der Ignoranz und des Terrors“

Nach Kämpfen zwischen den Taliban und afghanischen Sicherheitskräften in der Stadt Kandahar südwestlich von Kabul steigt Rauch auf. Foto: Sidiqullah Khan/AP/dpa
Nach Kämpfen zwischen den Taliban und afghanischen Sicherheitskräften in der Stadt Kandahar südwestlich von Kabul steigt Rauch auf. Foto: Sidiqullah Khan/AP/dpa

Der afghanische Präsident Aschraf Ghani schwieg lange zur Lage.

Am Freitagnachmittag (Ortszeit) teilte sein Vizepräsident Amrullah Saleh mit, in einer Sicherheitssitzung im Präsidentenpalast sei entschieden worden, weiter der „Armee der Ignoranz und des Terrors“, damit meinte er die Taliban, entgegenzustehen. Man werde den Sicherheitskräften alle dafür notwendigen Mittel zur Verfügung stellen. Es wird geschätzt, dass es rund 300.000 Sicherheitskräfte und 60.000 Taliban-Kampfer gibt.

Mehrere Staaten bereiten sich mittlerweile auf die Evakuierung ihrer Botschaftsmitarbeiter und anderer Staatsbürger vor. Die US-Streitkräfte verlegen sofort rund 3000 zusätzliche Soldaten an den Flughafen in Kabul. Damit solle eine geordnete Reduzierung des US-Botschaftspersonals unterstützt werden, hieß es von einem Sprecher des US-Verteidigungsministeriums.

Nach Informationen der New York Times haben US-Unterhändler Vertreter der Taliban gebeten, die US-Botschaft in Kabul nicht anzugegreifen, falls sie die Regierungsgeschäfte übernehmen und jemals ausländische Hilfe bekommen wollen.

Zudem verlegen die USA demnach bis zu 4000 weitere Soldatinnen und Soldaten nach Kuwait und 1000 nach Katar – für den Fall, dass Verstärkung gebraucht wird. Der Abzug der US-Soldaten aus Afghanistan solle aber bis 31. August abgeschlossen werden, so der Sprecher am Donnerstag (Ortszeit).

Auch Großbritannien will rund 600 zusätzliche Soldaten schicken, um die Rückführung von Briten aus Afghanistan zu sichern. Zuletzt hatte US-Präsident Joe Biden am Donnerstag im Weißen Haus erklärt, die Afghanen müssten nun „selbst kämpfen, um ihren Staat kämpfen“.

Die Bundesregierung hat als Konsequenz aus dem Vormarsch der Taliban beschlossen, das Personal der deutschen Botschaft in Kabul auf das „absolute Minimum“ zu reduzieren, wie Außenminister Heiko Maas (SPD) am Freitag im baden-württembergischen Denzlingen sagte.

Humanitäre Katastrophe droht

Gestrandete Menschen, die die Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan überqueren. Pakistan hat seinen Grenzübergang Chaman für Menschen geöffnet, die in den letzten Wochen gestrandet waren. Foto: Jafar Khan/AP/dpa
Gestrandete Menschen, die die Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan überqueren. Pakistan hat seinen Grenzübergang Chaman für Menschen geöffnet, die in den letzten Wochen gestrandet waren. Foto: Jafar Khan/AP/dpa

Nach Einschätzung der Vereinten Nationen wird die Lage der Menschen in Afghanistan immer verzweifelter. „Wir stehen kurz vor einer humanitären Katastrophe“, sagte eine Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR am Freitag in Genf.

Vor allem Frauen und Kinder würden vor den vorrückenden Taliban flüchten. Inzwischen sei die Lebensmittelversorgung von etwa einem Drittel der Bevölkerung nicht mehr sichergestellt, erklärte ein Sprecher des UN-Welternährungsprogramms (WFP). Allein zwei Millionen Kinder seien auf Hilfe angewiesen. Die Lage werde immer unübersichtlicher.

Die Taliban nähern sich weiter einer militärischen Machtübernahme im Land. Am Freitag folgte die Einnahme der Städte Firus Koh in der Provinz Ghor, Tirinkot in der Provinz Urusgan und Kalat in der Provinz Sabul. Drei Großstädte, darunter die Hauptstadt Kabul und Masar-i-Scharif im Norden, sind noch unter Kontrolle der Regierung. Es gibt Berichte über Angriffe auf weitere kleinere Provinzhauptstädte des Landes.

Zweitgrößte Stadt Afghanistans eingenommen

Anhänger der militant-islamistischen Taliban patrouillieren in der Stadt Gasni im Osten Afghanistans. Foto: Gulabuddin Amiri/AP/dpa
Anhänger der militant-islamistischen Taliban patrouillieren in der Stadt Gasni im Osten Afghanistans. Foto: Gulabuddin Amiri/AP/dpa

In Kandahar hatte es mehr als drei Wochen lang schwere Zusammenstöße zwischen der Regierung und den Taliban gegeben, bevor die Sicherheitskräfte in der Nacht zum Freitag die zweitgrößte Stadt des Landes räumten, wie der Parlamentarier Gul Ahmad Kamin sagte, der die Provinz im Parlament vertritt.

Die Regierungstruppen hätten schließlich die wichtigsten Behörden verlassen und im 205. Armeekorps der Provinz Zuflucht gesucht. Kandahar mit seinen mehr als 650.000 Einwohnern ist die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz und das wirtschaftliche Zentrum des Südens. Sie war auch Geburtsort der Taliban-Bewegung in den 1990er Jahren. Die Stadt diente zudem als Hauptstadt der Islamisten während ihrer Herrschaft zwischen 1996 und 2001.

Auch Laschkargah in der Provinz Helmand war seit Wochen schwer umkämpft. Viele Afghanen gingen aufgrund der heftigen Angriffe davon aus, dass sie die erste wichtige Stadt sein werde, die an die Islamisten fällt.

Als die Regierung Ende Juli nur mehr zwei der zehn Polizeibezirke in der Stadt mit geschätzt 200.000 Einwohnern hielt, wurden aus Kabul noch einmal Spezialkräfte entsandt. Diese schafften es mit Unterstützung durch viele Luftangriffe der afghanischen und der US-Streitkräfte zunächst, die Lage zu stabilisieren, wobei aber auch etwa ein Krankenhaus und eine Universität getroffen wurden.

Nach anhaltenden schweren Angriffen und dem Einsatz auch von Autobomben gegen das noch von der Regierung gehaltene Polizeihauptquartier allerdings wendete sich die Situation in der Nacht zu Freitag zugunsten der Taliban.

Der Provinzrat Abdul Madschid Achundsada sagte am Freitagmorgen (Ortszeit), die Taliban hätten die gesamte Stadt eingenommen. Der Kommandeur des 205. Armeekorps, Sami Sadat, sei mit dem Gouverneur ausgeflogen worden. Restliche verbliebene Sicherheitskräfte hätten die Stadt auf dem Landweg verlassen.

Am Donnerstag alleine konnten die Islamisten drei Städte einnehmen – darunter die drittgrößte Stadt Herat und die strategisch wichtige Stadt Gasni, die nur 150 Kilometer von Kabul entfernt liegt.

© dpa-infocom, dpa:210813-99-824436/13


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