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Plündereien, Gewalt und Chaos: Randale verwüstet Stuttgart

Menschen vor einem geplünderten Geschäft in der Marienstraße in Stuttgart. Foto: Julian Rettig/dpa
Menschen vor einem geplünderten Geschäft in der Marienstraße in Stuttgart. Foto: Julian Rettig/dpa

Fliegende Pflastersteine, geplünderte Geschäfte und Angriffe auf Polizisten: In Stuttgarts Innenstadt eskaliert in der Nacht die Gewalt. Einen politischen Hintergrund für die Randale erkennt die Polizei nicht.

Bei schweren Auseinandersetzungen mit der Polizei haben Hunderte Gewalttäter in der Nacht zum Sonntag die Innenstadt von Stuttgart verwüstet und bei der Randale mehrere Beamte verletzt.

Krawallmacher schmissen Pflastersteine auf vorbeifahrende Polizeiautos, schlugen Schaufenster auf der Stuttgarter Shoppingmeile ein und plünderten Geschäfte – Schreie, Scherben und Chaos im schicken Einkaufsviertel.

Nach Polizeiangaben beteiligten sich bis zu 500 Personen an der Randale in Stuttgart. 19 Polizisten wurden einer Pressemeldung zu Folge verletzt – einer davon ist nun dienstunfähig. Die Polizei sieht keine politischen Motive hinter der Gewalt, sie macht Partygänger und Krawalltouristen für die Eskalation verantwortlich.

Nach den Krawallen in Stuttgart sitzen acht mutmaßliche Randalierer in Untersuchungshaft, einer von ihnen wegen Verdachts auf versuchten Totschlag. Ein Richter habe die beantragten Haftbefehle erlassen, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft am Dienstagmorgen.

Ein weiterer Haftbefehl war gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt worden. Ihnen wird Landfriedensbruch vorgeworfen sowie gefährliche Körperverletzung, tätliche Angriffe auf Vollstreckungsbeamte und Diebstahl in besonders schwerem Fall. 16 zunächst vorläufig festgenommene mutmaßliche Beteiligte wurden den Angaben zufolge wieder entlassen.

Einer der verhafteten mutmaßlichen Randalierer, ein 16-Jähriger, muss sich wegen versuchten Totschlags verantworten. Er soll in der Nacht zum Sonntag einen bereits am Boden liegenden Studenten gezielt gegen den Kopf getreten haben.

Nach der Stuttgarter Chaos-Nacht erklärte Innenminister Horst Seehofer (CSU) bei einem Vor-Ort-Termin in Stuttgart: „Ich erwarte, dass die Justiz den Tätern, die gestellt werden konnten oder noch können, auch eine harte Strafe ausspricht. Da geht es auch um die Glaubwürdigkeit unseres Rechtsstaates.“ Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) warf den Randalieren Landfriedensbruch vor und sprach von einer „Gewaltorgie“.

Drogenkontrolle als Ausgangspunkt

Die Randale in Stuttgart soll ihren Anfang mit der Drogenkontrolle eines Jugendlichen im Schlossgarten genommen haben. Die Polizei habe gegen 23.30 Uhr einen 17-jährigen Deutschen wegen eines mutmaßlichen Drogendelikts kontrolliert, berichtete Polizeivizepräsident Thomas Berger am Sonntag bei einer Pressekonferenz im Stuttgarter Rathaus.

Sofort hätten sich 200 bis 300 Personen aus der örtlichen „Partyszene“ mit dem Jugendlichen solidarisiert und die Beamten vor Ort mit Steinen und Flaschenwürfen angegriffen. Auf dem Schlossplatz sei die Gruppe dann auf 400 bis 500 Personen angewachsen.

Mehrere Handy-Videos im Internet dokumentieren das Ausmaß der Gewalt. Junge Männer, viele von ihnen vermummt, ziehen randalierend durch die Einkaufsstraßen. Polizeihubschrauber fliegen über die Stadt. Bei den Ausschreitungen wurden laut Polizei 40 Geschäfte beschädigt und neun Läden geplündert.

„Die Situation ist völlig außer Kontrolle“, kommentierte ein Polizeisprecher am frühen Sonntag die Lage. Auf einem Videoclip ist zu sehen, wie ein vermummter Mann einem knienden Polizisten mit Anlauf und mit beiden Beinen von hinten in den Rücken springt. Der Beamte stürzt, die Zuschauer johlen.

Twittervideo SWR

Zeugen gesucht

Insgesamt waren in der Nacht 280 Polizisten im Einsatz. Etwa 100 Beamte wurden aus der Region hinzugezogen, um die Lage unter Kontrolle zu bekommen. Polizeivizepräsident Berger, der seit 30 Jahren Polizist ist, sagte: „Solche Szenen hat es noch nie gegeben.“

Der Stuttgarter Polizeipräsident Franz Lutz sprach von einer „nie dagewesenen Dimension von offener Gewalt gegen Polizeibeamte“ – und kündigte an, in den kommenden Wochen mit verstärkten Kräften in der Innenstadt unterwegs sein zu wollen. Die Ausschreitungen waren seinen Angaben nach aber nicht politisch motiviert.

„Wir können aus der momentanen Sicht der Dinge eine linkspolitische oder überhaupt eine politische Motivation für diese Gewalttaten ausschließen“, so Lutz. Von den 24 Festgenommenen sind laut Polizei 12 Deutsche und 12 Nicht-Deutsche. Die Männer im Alter zwischen 16 und 33 Jahren besitzen laut Polizei die deutsche, kroatische, irakische, portugiesische und lettische Staatsangehörigkeit.

„Wir haben noch keine verdichteten Hinweise darauf, dass hier tatsächlich eine politische Motivation oder entsprechend auch eine religiöse Motivation hinter diesen Taten steckt“, sagte die baden-württembergische Landespolizeipräsidentin Stefanie Hinz. Die Polizei geht von Menschen aus der sogenannten Party- und Event-Szene aus, die sich in den vergangenen Wochen immer wieder draußen getroffen und sich in den sozialen Medien mit ihrem Handeln inszeniert hätten.

Die Polizei hat Zeugen um Mithilfe bei den Ermittlungen gebeten – zur Aufklärung benötige man Bilder und Videos von den Straftaten und mutmaßlichen Tatverdächtigen. „Wir werden mit allem, was uns der Rechtsstaat zur Verfügung stellt, diese Randalierer verfolgen und sie zur Rechenschaft ziehen“, sagte Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) am Sonntagabend in den tagesthemen der ARD.

Strobel sah in den Ereignissen eine Herausforderung für den Rechtsstaat. Am Polizeipräsidium Stuttgart sei eine 40-köpfige Ermittlungsgruppe eingerichtet worden, das Landeskriminalamt werde die Ermittlungen unterstützen. Am Montagmorgen war unterdessen in der City kaum noch etwas zu sehen von den Schäden der chaotischen Nacht.

Reaktionen

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) verurteilte die Krawalle scharf. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte in Berlin, die Szenen seien „abscheulich“ gewesen und mit nichts zu rechtfertigen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier stellte sich demonstrativ hinter Polizeibeamte. „Wer Polizistinnen und Polizisten angreift, wer sie verächtlich macht oder den Eindruck erweckt, sie gehörten «entsorgt», dem müssen wir uns entschieden entgegenstellen.“

Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann sprach am Sonntag von einem „brutalen Ausbruch von Gewalt. Diese Taten gegen Menschen und Sachen sind kriminelle Akte, die konsequent verfolgt und verurteilt gehören“, teilte der Grünen-Politiker mit. „Die Bilder aus der Stuttgarter Innenstadt können uns nicht kalt lassen.“

Stuttgarts Polizeivizepräsident Thomas Berger beziffert den Schaden durch die Randale in Stuttgart auf einen sechs- bis siebenstelligen Betrag. Das sagte der Leiter des Polizeieinsatzes während der nächtlichen Randale in einem Interview mit dem Journalisten Gabor Steingart.

Unter anderem wurden in der Nacht zum Sonntag 40 Läden beschädigt und zum Teil geplündert, zudem zwölf Streifenwagen demoliert, sagte der Thomas Berger. 19 Polizisten seien infolge „total enthemmter Gewalt“ verletzt worden, einer davon brach sich das Handgelenk.

Zu den möglichen Hintergründen gab Berger mehrere Hinweise: Die Täter hätten sich in sozialen Medien in Pose setzen wollen und skandiert: „Endlich ist in Stuttgart was los“. Zudem hätten die Corona-Einschränkungen dazu geführt, dass junge Menschen sich zunehmend im öffentlichen Raum träfen. Diese Gruppe reagiere auf normale polizeiliche Ansprache sehr aggressiv. Auch in Göttingen waren am Wochenende Polizisten verletzt worden.

Auch der Kriminologe Christian Pfeiffer sieht in den Coronavirus-Beschränkungen eine Ursache für die Krawalle. „Da ist viel aufgestauter Ärger vorhanden“, sagte er der Augsburger Allgemeinen. „Wir haben viele Verlierer durch Corona.“ Hinzu komme, dass die Leute mehrere Wochen wie eingesperrt gewesen seien, wenn man es mit dem sonst vertrauten Leben vergleiche. „Menschen, die eingesperrt waren, sind aggressiver.“

Der Stuttgarter City-Manager Sven Hahn zeigte sich schockiert über die nächtliche Zerstörungswut in der Innenstadt. „Die Randale und die Schäden der vergangenen Nacht treffen die Stuttgarter Innenstadt in ihrer ohnehin schon schwierigsten und härtesten Zeit seit Jahrzehnten“, sagte Hahn, der Geschäftsführer der City-Initiative Stuttgart ist, einem Verbund aus Händlern, Gastronomen, Hoteliers und Kulturbetrieben.

Nach Ansicht der Polizeigewerkschaft darf sich die Stadt nun nicht mehr gegen ein Alkoholverbot auf öffentlichen Plätzen sperren. „Jugendliche haben auch außerhalb der derzeit gesperrten Clubs ausreichend Gelegenheit, sich Alkohol zu kaufen“, sagte der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Ralf Kusterer, am Montag.

Auch eine Sperrstunde zum Beispiel zwischen 3.00 und 7.00 Uhr morgens müsse diskutiert werden, forderte er. „Die Polizei hat nachts überhaupt keine Ruhe mehr, bevor es morgens wieder losgeht. Es läuft rund um die Uhr durch“, sagte Kusterer.

Das Alkoholverbot auf öffentlichen Stuttgarter Plätzen ist wahrscheinlich. Auf die Frage, ob ein derartiges Verbot kommen werde, sagte Ordnungsbürgermeister Martin Schairer am Montagabend in der Fernsehsendung SWR Aktuell: „Leider ja, wir waren bisher stolz darauf, dass wir das nicht mussten, weil wir ja eine der sichersten Großstädte in der Bundesrepublik sind.“ Man müsse schauen, dass man diese Sicherheit wieder herstelle.

Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) machte unter anderem Geltungsbewusstsein in den sozialen Medien als Grund für die Ausschreitungen aus – neben Alkoholkonsum. Nach den Worten von Innenminister Strobl hat sich „die Szene im Schlossgarten“ dort schon seit Längerem festgesetzt. Er forderte ein Gesamtkonzept für die Stadt Stuttgart und ein Maßnahmenbündel. „Das muss die Stadt Stuttgart lösen“, betonte der Minister.

Zum Schutz der Beamten wird die Bundespolizei nach Worten von Horst Seehofer nicht mehr einzeln oder zu zweit in einer Streife unterwegs sein, sondern künftig zu dritt. Es werde bei der Bundespolizei keine Streifen mehr geben unter drei Personen, um die Beamten im Alltag stärker zu schützen, sagte der Innenminister in Stuttgart. Das habe er bereits vor einigen Wochen beschlossen.

Politische Debatte

Die Ausschreitungen in der Schwabenmetropole führten am Sonntag auch zu hitzigen politischen Debatten. Horst Seehofer bezeichnete die Randale von Stuttgart als „Alarmsignal für den Rechtsstaat“. Es gehe nicht nur um Gewalt gegen die Polizei, sondern auch um die Verunglimpfungen der Beamten mit Worten. „Aus Worten folgen immer auch dann Taten.“

Sascha Binder, der Innenexperte der SPD-Landtagsfraktion, sprach von bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Grünen-Politiker Cem Özdemir twitterte von „idiotischer Zerstörungsgewalt“. Die Deutsche Polizeigewerkschaft in Baden-Württemberg, aber auch Stimmen aus CDU und AfD kritisierten etwa SPD-Bundeschefin Saskia Esken für ihre Äußerungen über einen „latenten Rassismus“ bei der Polizei.

„Die zunehmende Gewalt gegen unsere Polizeibeamten ist auch eine Folge der ständigen Anfeindungen der politischen Linken“, sagte etwa der baden-württembergische CDU-Generalsekretär Manuel Hagel. Die SPD-Chefin selbst kritisierte am Sonntag auf Twitter die „sinnlose, blindwütige Randale“ in Stuttgart. Die Gewalttäter müssten und hart bestraft werden. „Unbegreiflich, wie die Situation derart eskalieren konnte.“

Vor allem jüngere Menschen hätten Hemmungen verloren, weil die Polizei in den vergangenen Wochen unter anderem in der politischen Debatte zum Feindbild stilisiert worden sei, befand Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Ralf Kusterer.

Kusterer erneuerte in diesem Zusammenhang seine Vorwürfe gegen SPD und Grüne. Die pauschale Verunglimpfung und Verunsicherung der Polizei habe zu der Enthemmung beigetragen, sagte er. „Wenn die Politik ihre eigene durchsetzende Gewalt und die der Polizei öffentlich schwächt, schwächt sie ihre und die gesellschaftlichen Regeln und Normen gleich mit“, kritisierte Kusterer.

Sven Hahn, Geschäftsführer der City-Initiative Stuttgart, einem Verbund aus Händlern, Gastronomen, Hoteliers und Kulturbetrieben, plädierte für eine umfassende Analyse. „Wir müssen genau schauen, was passiert ist, wie es dazu kam und ob es dazu Aufrufe gab“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Dann gelte es, sich mit Polizei und Politik sinnvoll abzustimmen, um Lösungen zu finden. „Man tut nichts Gutes, wenn man vorschnell den Finger auf jemanden richtet.“

Aus der Bundespolitik kommen derweil Forderungen nach Konsequenzen. Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Mathias Middelberg, sagte der Welt: „Das Entstehen rechtsfreier Räume dürfen wir nicht zulassen.“ Die innenpolitische Sprecherin der grünen Bundestags-Fraktion, Irene Mihalic, sagte der Zeitung: „Nun müssen akribisch alle Erkenntnisse zusammengetragen werden, damit zügig geklärt werden kann, wer dahintersteckt und wie es überhaupt dazu kommen konnte.“

Gelegenheit zur Aufarbeitung in der Politik soll eine Sondersitzung des baden-württembergischen Innenausschusses am Mittwoch im Landtag (09.00 Uhr) geben. Dort will die Opposition Innenminister Thomas Strobl (CDU) ausführlich zur kriminellen Gewalt und zu Maßnahmen zum Schutz von Gesellschaft und Polizei befragen. Die Polizei hat angekündigt, in den kommenden Wochen mit verstärkten Kräften in Stuttgart unterwegs zu sein. Neben den politischen Konsequenzen wird im Stuttgarter Rathaus über die Folgen für den Handel und den Ruf der Stadt beraten.

© dpa-infocom, dpa:200623-99-527171/4

DPA-Fotos

(1) Plünderer haben die Fensterscheiben in Stuttgart zerstört. Foto: Kohls/SDMG/dpa
(2) Einheiten der Polizei stehen vor einem zerstörten Geschäft. Foto: Christoph Schmidt/dpa
(3) Ein Schaufenster in der Königstraße wurde stark beschädigt. Foto: Christoph Schmidt/dpa
(4) Polizeieinheiten sammeln sich, um gegen die Randalierer vorzugehen. Foto: Simon Adomat/dpa
(5) Menschen vor einem geplünderten Geschäft in der Marienstraße in Stuttgart. Foto: Julian Rettig/dpa
(6) Die zerstörte Eingangstür eines Geschäfts in der Stuttgarter Königstraße. Foto: Christoph Schmidt/dpa
(7) Einsatzkräfte der Polizei stehen am Abend nach den Ausschreitungen auf dem Schlossplatz in Stuttgart. Foto: Marijan Murat/dpa
(8) Risse in der beschädigten Scheibe eines Einzelhandelsgeschäfts in Stuttgart. Foto: Marijan Murat/dpa
(9) Bundesinnenminister Horst Seehofer besichtigte die Schäden in Stuttgart nach der nächtlichen Randale. Foto: Marijan Murat/dpa
(10) Stuttgart: Das Bild der Polizei rückt in der Debatte in den Mittelpunkt. Foto: Marijan Murat/dpa

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